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In unseren Nachbarländern sorgen Terroranschläge und Amokläufe für Angst und Verunsicherung. Bundeskanzlerin Angela Merkel muss ihre Sommerferien unterbrechen und ihren Mitbürgern Mut zusprechen. Derweil döst Bundesbern im Sommerschlaf. Der Politikbetrieb hat in den Ferienmodus geschaltet. Die Schweiz erweist sich wieder einmal als eine Art Insel der Seligen.
Ein Thema aber ist unterschwellig stets präsent, ähnlich wie die Glut, die unter der Asche eines erloschenen 1.-August-Feuers weiter lodert. Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Die Uhr tickt unerbittlich, bis zum 9. Februar 2017 muss gemäss den Vorgaben im neuen Verfassungsartikel 121a eine Lösung vorliegen. Unverdrossen hofft der Bundesrat, dass die Europäische Union ihm bei der Personenfreizügigkeit irgendwie entgegenkommen wird.
Bundespräsident Johann Schneider-Ammann traf sich deshalb am 16. Juli in der fernen Mongolei wieder einmal mit EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker. Das informelle Rencontre – von gewissen Medien zum «Gipfel» hochgejubelt – erbrachte genau gar nichts. Ausser der Beteuerung, man wolle weiter miteinander reden. Dabei hatte der Bundesrat laut der «NZZ am Sonntag» in der Hoffnung auf eine Übereinkunft für den folgenden Montag eigens einen Sitzungstermin reserviert.
Er blieb ungenutzt. Ein weiteres Mal ist eine Illusion zerplatzt. Fortschritte dürfte es frühestens am 19. September geben, wenn Schneider-Ammann und Juncker sich erneut begegnen werden. In Zürich, wo der Luxemburger an der Universität zum 70. Jahrestag von Winston Churchills legendärer Europa-Rede eine Ansprache halten wird.
Langsam beginnt es einigen im Lande zu dämmern, dass die Schweiz von der EU unter keinen Umständen relevante Konzessionen beim freien Personenverkehr erhalten wird. Schon gar keine Kontingente und keinen Inländervorrang, denen das Volk am 9. Februar 2014 zugestimmt hatte. «Schenkt dem Volk endlich reinen Wein ein!», forderte die «Berner Zeitung» in einem Kommentar. Die Landesregierung stehe «nach zweieinhalb Jahren Schattenboxen mit leeren Händen da».
Treffender kann man es nicht formulieren. Was aber macht der Bundesrat? Weiter auf Optimismus, der längst zur Schönrednerei verkommen ist.
Sicher, niemand konnte ahnen, dass der britische Premierminister David Cameron bereits im Juni 2016 über den Austritt seines Landes aus der EU abstimmen lassen würde. Und erst recht ahnte niemand, dass ein Ja zum Brexit resultierte. Dies hat den Spielraum der Schweiz zusätzlich eingeschränkt und alles komplizierter gemacht.
Wer jedoch ohne rosarote Brille durchs Leben geht, muss sich zu einem schonungslosen Eingeständnis durchringen: Es war von Anfang an unrealistisch, dass die Europäische Union einer wortgetreuen Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative auch nur annähernd zustimmen würde. Vor fast genau zwei Jahren erklärte die damalige EU-Aussenbeauftragte Catherine Ashton im Namen der 28 Mitgliedstaaten die Personenfreizügigkeit in einem Brief für nicht verhandelbar.
Eine Hintertüre liess sie offen: Man sei bereit, über Probleme im Zusammenhang mit der Freizügigkeit zu diskutieren. Eigentliche Verhandlungen schloss die EU kategorisch aus. Dennoch klammert sich der Bundesrat beharrlich an dieses Türchen. Immer wieder wurden Hoffnungen geschürt und von den Medien verbreitet. Aktuellester Strohhalm ist eine ominöse «Zwischenlösung», die EU-Parlamentspräsident Martin Schulz ins Spiel gebracht hat.
Auf wirksame Massnahmen zur Beschränkung der Zuwanderung aber konnte die Schweiz zu keiner Zeit hoffen. Dagegen hätten sich die EU-Mitgliedsstaaten gewehrt, die jeden Deal mit der Schweiz absegnen müssen. Die Hardliner findet man in Osteuropa. Diese Länder sind die Profiteure des Personenverkehrs auf der «Verkäuferseite». Hunderttausende Polen, Ungarn, Slowaken oder Litauer haben im Westen Arbeit gefunden und schicken Geld nach Hause.
Gegen eine Million Polen sollen allein in Grossbritannien leben. Die nationalkonservative Regierung in Warschau, an sich EU-skeptisch, reagierte entsprechend besorgt auf den Brexit-Entscheid. Gegenüber dem Nicht-Mitglied Schweiz dürfte sie erst recht unnachgiebig sein. Es genügt eben nicht, mit den Regierungschefs der Nachbarländer im Zug durch den neuen Gotthard-Basistunnel zu fahren. Die relevanten Leute sitzen in Bratislava, Budapest oder Riga.
Das britische Boulevardblatt «Daily Express» spuckte am Freitag grosse Töne: «Die EU ERLAUBT der Schweiz, die Zuwanderung zu DROSSELN», hiess es in Grossbuchstaben. Die Realität weiter unten im Text ist weitaus nüchterner. Die Schweiz bekomme keinen besseren Deal als David Cameron, hiess es unter Berufung auf eine EU-Quelle. Also höchstens Einschränkungen bei den Sozialleistungen. Es werde eine für die Schweiz massgeschneiderte Lösung sein, um keinen Präzedenzfall für andere Länder zu erzeugen, namentlich wohl Grossbritannien.
Gut möglich also, dass es bis Ende Jahr zu einer Übereinkunft zwischen der Schweiz und der Europäischen Union kommen wird. Diese aber wird meilenweit entfernt sein von dem, was die SVP-Initiative fordert. Eine wirksame Zuwanderungsbremse? Fehlanzeige.
Vielleicht wird die EU mit der Zeit zur Einsicht gelangen, dass die Personenfreizügigkeit sich in ihrer absoluten Form nicht aufrecht erhalten lässt. In zu vielen Ländern wächst der Widerstand gegen die ungeregelte Migration. Aber das wird dauern. Der Schweiz wird nichts anderes übrig bleiben, als die Masseneinwanderungsinitiative im Alleingang umzusetzen.
Wie dies aussehen könnte, ist immer noch unklar. Im Vordergrund steht eine Art Schutzklausel im Sinne eines Inländervorrangs, die aber das Freizügigkeitsabkommen nicht verletzen soll. Der Bündner SVP-Nationalrat Heinz Brand, Präsident der Staatspolitischen Kommission, brachte das Dilemma Anfang Juli auf den Punkt: Wirksame Varianten des Inländervorrangs verletzten das Abkommen. Jene, die damit kompatibel sind, haben kaum Auswirkungen auf die Zuwanderung.
Der Nationalrat soll das Geschäft in der Herbstsession beraten. Der Zürcher FDP-Nationalrat Hans-Peter Portmann plädierte gegenüber watson für eine konsequente Lösung mit Kontingenten und Inländervorrang, verbunden mit der klaren Ansage, dass dies das Ende der bilateralen Verträge mit der EU bedeuten würde. Dagegen würden Linke und/oder Wirtschaft das Referendum ergreifen, es käme faktisch zu einer Wiederholung der Abstimmung vom Februar 2014. Das Stimmvolk könnte klar und deutlich sagen, was es will: Bilaterale oder Zuwanderungsinitiative.
Für einen solchen Weg fehlt dem Parlament wohl der Mut. Am Ende dürfte eine wässrige Lösung resultieren, die so gut wie nichts bewirken wird. Wie es dann weitergeht, ist offen. Wird die SVP das Referendum ergreifen? Oder die in Aussicht gestellte Volksinitiative zur Kündigung der Personenfreizügigkeit lancieren? Was geschieht mit der Volksinitiative «Raus aus der Sackgasse!» (RASA)? Im Hintergrund lauert zudem der Elefant im Raum, den alle ignorieren: Das institutionelle Rahmenabkommen mit der EU.
Die Verhandlungen sind laut Aussenminister Didier Burkhalter weit fortgeschritten. Die Bürgerlichen scheuen vor diesem Vertrag zurück, der eine «dynamische» Übernahme von EU-Recht zur Folge hätte und wegen des Streits um «fremde Richter» umstritten ist, doch ewig kann die Schweiz ihn nicht auf die lange Bank schieben.
SVP-Vordenker Christoph Blocher wetzt bereits die Messer, er hat mit seinem Komitee «Nein zum schleichenden EU-Beitritt» am kommenden Freitag zu einer Medienkonferenz eingeladen. Das Rahmenabkommen wird zum wahren Härtetest für den bilateralen Weg.
FDP-Fraktionschef Ignazio Cassis brachte es im «Tages-Anzeiger» auf den Punkt: Die Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative sei ein «Riesenpuzzle, von dem niemand weiss, wie es am Ende aussehen soll». Deshalb klammert man sich in Bundesbern an die Hoffnung auf einen Deal mit Brüssel, auch wenn er nichts bewirken wird.