Ehemalige Verdingkinder und andere Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen sollen 20'000 bis 25'000 Franken erhalten. Der Nationalrat hat dem indirekten Gegenvorschlag zur Wiedergutmachungsinitiative am Mittwoch deutlich zugestimmt.
Nach einer emotionalen Debatte hat sich der Nationalrat mit 143 zu 26 Stimmen bei 13 Enthaltungen für ein Gesetz ausgesprochen, das die Zahlungen ermöglicht. Ja sagte er auch zum Bundesbeschluss über die Finanzierung. Die Volksinitiative lehnte der Rat stillschweigend ab.
Fürsorgerische Zwangsmassnahmen waren in der Schweiz bis 1981 angeordnet worden. Zehntausende von Kindern und Jugendlichen wurden an Bauernhöfe verdingt oder in Heimen platziert, viele wurden misshandelt oder missbraucht. Menschen wurden zwangssterilisiert, für Medikamentenversuche eingesetzt oder ohne Gerichtsurteil weggesperrt.
Die Rednerinnen und Redner im Nationalrat zeigten sich erschüttert. Manche berichteten von Begegnungen mit Opfern, andere von betroffenen Familienangehörigen – Beat Flach (GLP/AG) etwa von seiner Grossmutter, die als Verdingkind bei den Schweinen schlafen musste und Kartoffelschalen zu essen bekam, Matthias Aebischer (SP/BE) von seinem Grossvater, der fast täglich geschlagen wurde.
Die Wiedergutmachungsinitiative verlangt Zahlungen im Umfang von 500 Millionen Franken. Die Höhe der Wiedergutmachung soll sich nach dem erlittenen Unrecht richten. Mit dem Gegenvorschlag stünden 300 Millionen Franken zur Verfügung, und alle Opfer würden den gleichen Betrag erhalten – wie viel genau, hängt von der Anzahl der bewilligten Gesuche ab.
Den tieferen Gesamtbetrag begründet der Bundesrat damit, dass er von einer tieferen Opferzahl ausgeht als die Initianten. Der Bund schätzt die Zahl der noch lebenden Anspruchsberechtigten auf 12'000 bis 15'000. Damit würde jedes Opfer 20'000 bis 25'000 Franken erhalten. Der Nationalrat will die Leistung auf 25'000 Franken begrenzen.
Justizministerin Simonetta Sommaruga stellte am Ende der Beratungen fest, das Thema verdiene die volle Aufmerksamkeit. «Wir dürfen nicht aufhören, uns zu vergegenwärtigen, was Jahrzehnte lang in unserem Land möglich war», sagte sie. Die Geschichte der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen sei eine Geschichte der Armut, der Ausgrenzung und Diskriminierung.
«Die Geschichte können wir nicht korrigieren», sagte Sommaruga. Es gehe auch nicht darum, die damaligen Geschehnisse aus heutiger Sicht zu verurteilen. Aber der Staat könne der besonderen Situation der Opfer Rechnung tragen. Er könne das erlittene Unrecht anerkennen und die heute noch spürbaren Folgen mildern.
Die Erfahrungsberichte seien schockierend, stellte Roberto Schmidt (CVP/VS) im Namen der Kommission fest. Das helfe den Betroffenen aber nicht. Das psychische und physische Leid habe ihr Leben geprägt. «Wir müssen und wollen das grosse Unrecht, das diese Menschen erlitten haben, anerkennen und wenigstens teilweise wieder gutmachen.»
Gegen finanzielle Leistungen für die Opfer stellten sich ein Teil der SVP-Fraktion. Zahlungen wären nur gerechtfertigt, wenn die staatlichen Handlungen dem damaligen Recht widersprochen hätten, argumentierten die Gegner. Allerdings wären die Taten in diesem Fall verjährt.
«Wir dürfen nicht einfach Geld verteilen, weil uns gerade der Sinn danach steht oder weil mit Filmen, Büchern und durch Medien ein öffentlicher Druck aufgebaut wurde», sagte Claudio Zanetti (SVP/ZH). Hans-Ueli Vogt (SVP/ZH) warnte davor, den Stab über die Vorfahren zu brechen. «Dereinst werden Menschen, für das, was wir heute tun und lassen, Wiedergutmachung verlangen.»
Die Befürworter widersprachen: Es gehe nicht um Handlungen, die früher akzeptiert gewesen seien und heute als unangemessen gälten, sagte Karl Vogler (CVP/OW). Zu einem grossen Teil gehe es um strafrechtlich relevante Taten wie sexuellen Missbrauch.
Im Lauf der letzten Jahre hatte es erste Schritte zur Rehabilitierung der Opfer gegeben. Auch wurde ein Soforthilfefonds eingerichtet für jene, die sich in einer Notlage befinden. 950 Opfer erhielten Geld, durchschnittlich 7300 Franken pro Person. Ferner leiteten die Behörden eine umfassende wissenschaftliche Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen ein.
Nun muss noch der Ständerat entscheiden. Die Initianten haben in Aussicht gestellt, das Volksbegehren zurückzuziehen, sollte der Gegenvorschlag von beiden Räten angenommen werden. Mit dem Gesetz könnte den betroffenen Menschen schneller geholfen werden als mit der Initiative, hiess es im Nationalrat. Das sei angesichts des Alters vieler Opfer wichtig. (whr/sda)