Der Bund muss sich erneut wegen einer Informatikbeschaffung kritisieren lassen. Es geht um einen teuren Einkauf, dessen Zweck zwar niemand bestreitet, zu dem aber sehr viele Fragen aufkommen. Im Fokus der Recherche steht das Registrierungstool namens RegisterMe, welches vor wenigen Tagen aufgeschaltet wurde und die vielen Asylgesuche von Ukrainerinnen und Ukrainern vereinfachen soll.
Auslöser der Kritik ist die stolze Zahl auf dem Preisschild: Die IT-Firma DV Bern konnte der Staatskasse 2'879'504.90 Franken verrechnen. Die tatsächlichen Kosten des Staatsauftrages könnten aber am Ende noch höher liegen, da weitere 765'000 Franken für optionale Aufgaben vereinbart wurden.
watson konnte mit mehreren Firmen sprechen, die ebenfalls an einem solchen Auftrag interessiert gewesen wären. Sie konnten aber weder eine Offerte eingeben, noch gab es eine formelle Ausschreibung. Die Behörde rechtfertigt sich mit dem Ukraine-Krieg: Aufgrund des Umfangs der Fluchtbewegungen und der Aktivierung des Schutzstatus S sei die Behörde «unmittelbar und dringend» auf ein Registrierungs- und Terminbuchungssystem angewiesen gewesen.
Die Sichtweise des zuständigen Staatssekretariats für Migration (SEM): Aufgrund dieser absoluten Notsituation habe die Behörde frei darüber entscheiden können, welche Firma den Zuschlag erhält. In der Fachsprache werden solche staatlichen Einkäufe als «freihändige Vergaben ohne Einladungsverfahren» bezeichnet. Sie sind im Gesetz auch ausdrücklich vorgesehen. Als Bedingung gilt: Die Beschaffung muss derart dringlich sein, dass selbst kürzere Fristen wegen «unvorhersehbarer Ereignisse» nicht infrage kommen.
Kritikerinnen und Kritiker zielen zwar auf den vereinbarten Auftragspreis von insgesamt über 3.6 Millionen Franken. Sie zweifeln jedoch auch, ob tatsächlich eine derartige Notsituation vorlag, die nun zu diesem Preis führte. Namentlich hinstehen will aber keiner von ihnen: Die angefragten Konkurrenten verweisen auf die Konkurrenzsituation und Überlegungen, allenfalls eine Beschwerde einzulegen.
Die Zweifel beziehen sich auf die Vorgeschichte: Der rapide Anstieg der Asylgesuche hatte zwar unmittelbar mit dem plötzlichen Kriegsausbruch in der Ukraine zu tun. Die aktuelle Besonderheit liegt jedoch auch darin, dass der Bundesrat erstmals den sogenannten Schutzstatus S aussprach: Mit diesem Entscheid vom 11. März wurde allen Personen mit Wohnsitz in der Ukraine pauschal ein Schutzanspruch zugesprochen. Sie mussten – anders als etwa Eritreerinnen, Syrer und Afghaninnen – nicht einen aufwändigen Asylprozess stellen und ihren Flüchtlingsstatus rechtfertigen.
Die Tatsache, dass die Schweiz erstmals in ihrer jüngeren Geschichte diesen Schutzstatus S aktiviert hat, liegt indes nicht daran, dass er neu ist. Er wurde nach den Erfahrungen der 1990er-Jahre geschaffen, als klar wurde, welche administrativen Herausforderungen eine plötzliche Massenflucht verursachen kann. Während den Jugoslawien-Kriegen fehlte der Schutzstatus S. Später, als er dann Teil des Asylgesetzes wurde, wurde er aber nie umgesetzt. Nicht beim Konflikt in Eritrea, nicht beim Bürgerkrieg in Syrien und auch nicht nach unzähligen Verschlimmerungen der Kriegssituation in Afghanistan.
So fehlten die Erfahrungen, wie der Schutzstatus S praktisch und bürokratisch funktionieren soll. Ein fixfertiges und modernes Umsetzungsszenario fehlte, als der Bundesrat den Ukrainerinnen und Ukrainern den Schutz erstmals gewährte. Ausbaden durfte es das Staatssekretariat für Migration, welches zu Beginn der massenhaften Asylgewährung mangels Alternativen einen folgenreichen Entscheid traf: Man setzte auf veraltete Technik.
Diese sah so aus: Asylsuchende wurden im März aufgefordert, das Gesuch um Schutzgewährung mit einem PDF-Dokument einzureichen. Das Dokument enthielt zwar Formularfelder, nur halfen diese bedingt der Bearbeitung der vielen Asylgesuche. Das Dokument wurde deshalb in den allermeisten Fällen schlicht analog eingereicht: entweder handschriftlich ausgefüllt, als Scan oder als PDF-Datei, deren Daten extrahiert werden mussten.
Die Konsequenz war, dass zehntausende solcher Gesuche manuell bearbeitet werden mussten. Die Dokumente waren zwar nicht mehrere Seiten lang und beschränkten sich nur auf grundlegende Informationen wie Name, Anschrift, Verwandtschafts- und Kontaktangaben. Doch auch diese mussten digitalisiert oder abgetippt werden. Einerseits, um die Daten überhaupt in einem dezentralen Informatiksystem verarbeiten und bearbeiten zu können. Andererseits, um statistische Zahlen zur Flüchtlingsbewegung zu erhalten.
«Die Herausforderung besteht insbesondere darin, die Daten so zu extrahieren, dass sie statistisch auswertbar sind», erklärt SEM-Sprecher Lukas Rieder. Das raube viele Ressourcen, heisst es von der Behörde. Der Gedanke, dass es mit einer digitalen Lösung einfacher gehen könnte, setzte sich beim SEM aber vergleichsweise spät durch. Die Behörde sagt zwar, dass die digitale Lösung «Mitte März» in Auftrag gegeben wurde – kurz nach dem Bundesratsentscheid vom 11. März zum Schutzstatus S. Dass es zu diesem Entscheid kommen könnte, stand aber schon viel länger im Raum: Die Landesregierung schlug dies den Kantonen bereits am 4. März vor. In den osteuropäischen Ländern zeigte sich zudem bereits Ende Februar, dass zehntausende Menschen auf der Flucht sind.
Anfang April stand dann die Lösung mit RegisterMe bereit. Bis zur definitiven Einführung und Integration im Asylsystem dauerte es aber noch mehr als zwei Wochen. Die Behörde erklärt, dass «prozessuale und organisatorische Anpassungen» notwendig waren und das Personal geschult werden musste. Offiziell in Betrieb ist RegisterMe seit dem 19. April, die Rechnung für die Steuerzahlenden folgte Tage später.
Am Sinn und Zweck der raschen Digitalisierung zweifeln angefragte Unternehmerinnen und Unternehmer nicht. Sie anerkennen auch die Notsituation, in der sich das SEM befand. Der Geschäftsführer einer Informatikfirma sagt aber: «Wenn es bloss darum ging, ein Registrierungs- und Terminbuchungssystem zu schaffen, dann hätte ich das für einen Bruchteil offerieren können.» Ihn ärgert vor allem die Tatsache, dass wieder ein staatlicher IT-Auftrag «hintenrum» vergeben wurde und keine Konkurrenz angehört wurde. Dies sei sicher auch der Notsituation geschuldet. Er erwidert aber: «Hätte man vorausgeschaut oder zumindest Anfang März erste Offerten eingeholt, wäre der Frust bei mir und anderen Firmen geringer.»
Angefragte Politiker betonen einen grundsätzlichen Handlungsbedarf. So sagt der St.Galler FDP-Nationalrat Marcel Dobler: «Ich habe während der Pandemie Korrekturen bei der Digitalisierung im BAG gefordert. Offenbar ist das auch beim SEM nötig.» Der Freiburger Nationalrat Gerhard Andrey (Grüne) verortet das Problem bei der Voraussicht: «Der Bund muss seine digitalen Werkzeuge viel modularer orchestrieren, damit innert Kürze und mit wenig Aufwand solche neuen Prozesse digital bereitgestellt werden können. Das wäre technisch gesehen eigentlich keine Hexerei und würde solche Notfall-Beschaffungen vermeiden.» Auch er erwähnt einen Vorstoss, den er bereits beim Bundesrat deponierte, und fordert nun: «Bei der Umsetzung muss die Verwaltung einen Gang höher schalten.»
Ein Branchenkenner äussert sich vorsichtiger: «Man müsste wissen, wie genau RegisterMe umgesetzt werden musste: Wenn eine Integration in veraltete Systeme der Behörden notwendig war, wäre das Tool sicher teurer geworden als irgendein Buchungssystem für einen Coiffeur-Termin.»
Dazu äussert sich jedoch das SEM nicht. watson wollte von der Behörde wissen, was die Entwicklung des Tools RegisterMe verkomplizierte und den Preis rechtfertigte. Detaillierte Angaben gab es keine, womit derzeit lediglich bekannt ist: Es handelt sich um eine Registrierungs- und Terminbuchungsplattform, die den «geltenden Vorgaben des Bundes im Bereich des Datenschutzes sowie der IT-Sicherheit» entspricht.
Anhand dieser Angaben erinnert RegisterMe funktional und gestalterisch sehr stark an die Impftermin-Lösung VacMe, die ebenfalls aus dem Haus DV Bern kam und vom Kanton Zürich für rund zwei Millionen Franken beschafft wurde.
Die Ähnlichkeit der Systeme fiel auch den Verantwortlichen beim SEM auf: Asyl-Krisenstabsleiter David Keller sagte diese Woche über RegisterMe, dass es dem Corona-Impfsystem nachempfunden sei. Die Behörde verweigerte jedoch eine Stellungnahme zu Spekulationen und zur Preiskritik aus der IT-Branche – dies mit Verweis auf die laufenden Beschwerdefristen. Die Behörde bezeichnet die durchgeführte Beschaffung als rechtlich korrekt, die Vergabe stehe «in Einklang mit den bestehenden gesetzlichen Grundlagen».
Ich hätte ja den topmodernen Telefax empfohlen. Scheint sich bewährt zu haben während der Pandemie.
Da der Zuschlag ordentlich publiziert wurde, besteht die Möglichkeit, eine Beschwerde einzureichen. Die angefragten Firmen müssen sich also nicht frustriert anonym in den Medien über den Zuschlag auslassen, sondern können dies beim Bundesverwaltungsgericht tun, wenn sie der Meinung sind, dass der Auftrag „hintenrum“ vergeben wurde.