Peter Hans Kneubühl schlurft in schwarzen Crocs-Schuhen durch den dunklen Gang des Regionalgefängnisses Thun. Der 79-Jährige hat weiche Gesichtszüge und geht leicht gebückt. Er freut sich über den Besuch. Er lacht immer wieder, auch über sich selber und über sein «Abenteuer», wie er seinen Kriminalfall nennt.
Dabei gilt er als einer der gefährlichsten Männer der Schweiz. Kneubühl ist einer von 150 Verwahrten. Sie haben ihre Strafe abgesessen, bleiben aber eingesperrt, damit die Gesellschaft vor ihnen in Sicherheit ist.
Innerhalb der Gefängnismauern von Thun ist Kneubühl allerdings ein harmloser Zeitgenosse. Der Gefängnisdirektor lässt die Reporter allein mit dem 1,95 Meter grossen Mann in seiner Zelle mit der Nummer 6.
Hier hat er die meiste Zeit seit der Tat vor zwölf Jahren verbracht. Überall liegen fein säuberlich gestapelte Akten und Briefe. Kneubühl ist überzeugt, dass sein Fall noch immer nicht aufgeklärt ist, obwohl er juristisch abgeschlossen ist. Deshalb beharrt er darauf, im Untersuchungsgefängnis zu bleiben, obwohl er ein lockeres Haftregime verdient hätte. Aber er will damit seine Forderung nach einer Untersuchung zum Ausdruck bringen. Er glaubt, er sei vom Staatsschutz in einem Geheimverfahren verfolgt worden.
Gerichtspsychiater haben eine andere Sicht darauf. Sie diagnostizierten ihm einen «Verfolgungswahn mit querulatorischen Komponenten».
Wie sieht die Welt aus Kneubühls Perspektive aus? Der Bieler Filmemacher Laurent Wyss präsentiert die Antwort darauf in einem Spielfilm mit dem Titel «Peter K. – Alleine gegen den Staat». Eigentlich hätte dieser zum zehnten Jahrestag erscheinen sollen. Wegen Finanzierungsproblemen und der Pandemie kommt der Low-Budget-Film (385'000 Franken) erst jetzt in die Kinos: am 10. November.
Die Ankündigung als Spielfilm ist allerdings nicht ganz korrekt. Eigentlich ist es ein Dokudrama. Der Film hat den Anspruch, die Realität so gut wie möglich abzubilden. Wie in einer Tatortrekonstruktion werden die Ereignisse vom 8. September 2010 nachgestellt – untermalt von den Nachrichtenmeldungen aus dieser Zeit.
Die ganze Schweiz blickte damals nach Biel: Kneubühl hatte sich nach einem Erbteilungsprozess in seinem Elternhaus am Mon-Désirweg 9 in Biel verschanzt. Es war der Tag der Zwangsräumung. Er verbarrikadierte Türen und Fenster und wartete auf die Polizei mit dem Gewehr im Anschlag. Als die Sondereinheit Enzian das Haus stürmen wollte, eröffnete er das Feuer.
Nach elfstündiger Belagerung sprang Kneubühl nach Mitternacht plötzlich aus einem Fenster, schoss einen Polizisten an und verschwand in der Dunkelheit. Er floh durch die Gärten der Nachbarhäuser. Die Polizisten verloren ihn aus den Augen. Sie waren auf diese Situation nicht vorbereitet.
Kneubühl gelang es, sich neun Tage lang in Biel und den umliegenden Wäldern vor einem Grossaufgebot zu verstecken. 1057 Polizistinnen und Polizisten standen im Einsatz, ein Militärhelikopter und ein Radschützenpanzer. Am Schluss wurde er in der Taubenlochschlucht gesichtet und verhaftet.
Die wahnsinnige Aktion machte Kneubühl in gewissen Kreisen zu einem Helden: Er wurde als eigenbrötlerischer Freiheitskämpfer gefeiert, der sein einziges Zuhause ganz allein gegen die Staatsgewalt verteidigte. Noch heute wird sein Name hie und da an Strassenecken gesprayt. Es sind unterschiedliche Leute, die sich solidarisieren: Querdenker, Querulanten und Anarchisten.
Dem Film sieht man das kleine Budget auf den ersten Blick nicht an. Er ist für Schweizer Verhältnisse überdurchschnittlich gut gemacht. Mit düsteren Bildern und einem pulsierenden Ton gelingt es der Produktion anfangs Spannung zu erzeugen. Manfred Liechti (2006 war er der Dorfkönig in «Die Herbstzeitlosen») spielt Kneubühl so gut, dass manchmal vergessen geht, dass er ein Schauspieler ist.
Und trotzdem: «Peter K.» ist zwar ein guter Fernsehfilm, aber er drängt sich nicht für die grosse Leinwand auf. Der Spannungsbogen eines Kinofilms entsteht nicht. Auch inhaltlich werden die 99 Minuten den Ansprüchen eines Kinopublikums nicht gerecht. Der Film taucht nicht wirklich in Kneubühls Psyche ein, sondern streift sie nur.
So wird das eigentliche Motiv von Kneubühls Kampf nur angetönt. Ganz am Schluss heisst es, seine Schwester sei einst von ihrem Vater vergewaltigt worden, und Peter sei wahnsinnig geworden, weil er ihr nicht helfen konnte. Nähere Erklärungen bietet der Film nicht. Dabei würde die psychologische Aufarbeitung hier erst beginnen.
Peter Kneubühls Erzählung geht nämlich ganz anders. Er sieht sich bedroht durch den Feminismus. Aus seiner Sicht haben die Frauen im Kampf gegen das Patriarchat die Macht übernommen und ein Matriarchat eingerichtet. Männer wie er seien verleumdet worden.
Frustrierte Feministinnen wie seine Schwester hätten bei der umstrittenen Psychotherapie «Recovered-memory therapy» Rat gesucht. Dabei wird nach unbewussten negativen Erfahrungen in der Kindheit gesucht, mit denen die heutigen Probleme erklärt werden könnten. Seine Schwester bilde sich daher ein, von ihrer ganzen Familie vergewaltigt worden zu sein, was aber nicht stimme. In einem Brief schreibt Kneubühl:
In einem Geheimprozess ohne Anklage und ohne Kläger seien ihm 1992 seine Stelle und seine Wohnung weggenommen worden. Er war Elektroingenieur und arbeitete als Mathematik- und Physiklehrer. Tatsächlich kündigte er seine Wohnung und seine Stelle selber und tauchte damals unter, weil er sich nicht mehr sicher fühlte. Gemäss den Gerichtspsychiatern hat er in dieser Zeit seinen Wahn entwickelt.
Kneubühl hingegen ist überzeugt, dass er vom Staatsschutz verfolgt wurde und der «Polizeiüberfall» auf sein Haus eine Folge davon sei. Er ist an jeder Publizität an seinem Fall interessiert, weil er hofft, irgendwann würde irgendjemand die Wahrheit aufarbeiten. Deshalb hat er auch mit Regisseur Wyss zusammengearbeitet und ihm in vielen Briefen und bei vielen Besuchen seine Sicht geschildert.
Trotzdem bleibt der Fall in der Realität ein grösserer Psychothriller als in seiner fiktiven Darstellung, die nun im Kino zu sehen ist.
«Peter K.» ist einer der ersten Filme seit langem, den Kneubühl gesehen hat. Auf einen Fernseher verzichtet er. In seiner Zelle liegen Tageszeitungen («Der Bund»), Wochenmagazine («Der Spiegel») und Sachbücher («Hier komme ich nicht lebend raus» von Charly Grob über den St.-Ursen-Brandstifter Andres Zaugg) herum. Als ihm Regisseur Wyss jedoch eine Kopie seines Films ins Gefängnis schickte, nutzte Kneubühl die Gelegenheit. Der Gefängnisdirektor liess ihn den Film in einem Schulungsraum schauen.
Als wir Kneubühl besuchen, spielen wir ihm auf einem Laptop nochmals eine Schlüsselszene vor. Er verfolgt sie gebannt, zuckt bei lauten Tönen zusammen und muss lachen, als sein Double Manfred Liechti in einem Laden durchdreht und über die Überwachungskameras schimpft.
Es ist dieses Bild, das der Film von Kneubühl zeichnet. Er wird als Gegner des Überwachungsstaates dargestellt, als Eigenbrötler und Anarchist. Dass damit nur eine Facette seiner Persönlichkeit abgebildet wird, stört Kneubühl nicht. Wieder muss er lachen. Er findet den Film gelungen, weil er die Übermacht des Staats aufzeige und sein eigenes Gefühl von Ohnmacht, sagt er.
Die Stärke des Films sieht Kneubühl darin, dass er die menschliche Dimension des Falls aufzeige. Er fragt:
Den Einwand, er hätte den Dialog suchen können, lässt er nicht gelten, weil dies angesichts der Vorgeschichte eben nicht möglich gewesen sei.
In seinen Jahren im Gefängnis hat Kneubühl viel darüber nachgedacht, was es braucht, dass jemand wie er und seine Mitinsassen hinter Gittern landen. Er selber ist hier der einzige Langzeitinsasse. Alle anderen kommen und gehen wieder. Entsprechend viele Kriminelle hat Kneubühl schon kennen gelernt. Er sagt:
Er ist überzeugt davon, dass jede Person eine kriminelle Energie entfalten könne, wenn sie in einer ungünstigen Situation lande. So erstaune es ihn nicht, wenn junge Männer für die Drogenmafia arbeiten, wenn sie sonst keine Perspektiven hätten. Schliesslich sei es heute nicht mehr so einfach wie in seiner Zeit, eine Stelle zu finden.
Er habe auch mit Häftlingen gesprochen, die für die Terrororganisation IS gearbeitet hätten, erzählt Kneubühl. Er lehne deren Ideologie ab. Aber als er diese Leute näher kennen lernte, habe er sich gefragt: «Wäre ich da aufgewachsen, wo sie lebten, was hätte ich getan?» Seine Antwort: Er habe Glück gehabt, dass er an einem privilegierten Ort aufgewachsen sei.
Der Film «Peter K.» stellt den Protagonisten als tragische Figur dar, die in ihrer eigenen Welt eingeschlossen ist. Kneubühl selber sieht sich aber nicht so. Trotz seiner Verschwörungstheorie zieht er eine positive Bilanz zu seinem Leben. «Ich kam erst mit 67 ins Gefängnis», sagt er. Den grössten Teil seines Lebens habe er also in Freiheit verbracht. Und nun brauche er diese Freiheit gar nicht mehr.
Als alter Mann ohne Job und Altersvorsorge könnte er draussen gar nicht überleben, wie er selber betont. Die kleine Welt aus Beton und Stahl, in der er lebt, gebe ihm Halt in einem Leben, das aus den Fugen geraten ist. Er schätzt, dass er hier sein eigenes Bett hat und einen Raum, den ihm niemand streitig macht. Kneubühl lacht einmal mehr, lobt das Essen im Knast und sagt:
Seine Unterbringung ist sogar relativ günstig. Ein Bett in einem Altersheim kostet etwa 270 Franken pro Tag. Ein Bett im Regionalgefängnis Thun hingegen wird nur mit 220 Franken verrechnet. Der Fall ist günstig, weil Kneubühl freiwillig im Untersuchungsgefängnis bleiben will. Im Normalvollzug würde ein Tag mit 280 Franken verbucht. Verwahrte, die in Kleingruppen untergebracht sind, kosten die Steuerzahlenden 570 Franken pro Tag.
Der Film «Peter K.» lässt das Publikum ratlos zurück. Er endet in der ersten von vielen Gerichtsverhandlungen, und man weiss am Schluss nicht recht, ob man den Darsteller nun sympathisch finden soll oder nicht. Der Regisseur sieht darin eine Stärke. Er sieht den Spielfilm wie eine journalistische Arbeit, die keine Partei ergreife.
In der Realität aber hat der Fall durchaus ein Happy End: Kneubühl ärgert sich zwar über die Justiz, doch insgesamt ist er zufrieden mit seinem Leben hinter Gittern, das demnächst auch hier enden werde, wie er selber vermutet. (aargauerzeitung.ch)
Finden seine Fans Laibacher etwa auch verehrenswert? Oder die Frau, die in Basel einen Fünfjährigen erstach (um auf die - eingebildete - Verfolgung durch die Steuerbehörde hinzuweisen)?
Diese Täter sind krank und es ist schlimm, dass man scheinbar nicht helfen kann. Aber als Freiheitskämpfer verehren? Ein sehr fragwürdiger Freiheitsbegriff.
Die Situation war an abstrusität nicht zu überbieten!
Überall mit Maschienenpistolen bewaffnete Sondereinheiten, im ganzen Quartier. Es war wie im Kriegszustand.
Die Angst der Polizisten war beinahe greifbar.
Aber wir, die Bevölkerung, lebten einfach unser Leben weiter.
Niemand hatte Angst vor Herrn Kneubühl.
Es hatte sich recht schnell die Überzeugung durchgesetzt, dass er uns nichts tun würde, selbst wenn er jemanden über den weg liefe.
...
Bis ihn dann ein Polizeihund aus Solothurn aufhalten konnte, als er angeblich eine Verwandte im Altersheim besuchen wollte.
Dem Polizisten hatte er übrigens aus nächster nähe in den Kopf geschossen. Dieser überlebte nur durch ganz grosses Glück!
Es war unwirklich. Die ganze Geschichte!