Schweiz
Wahlkampf

Die Wahlprognose zeigt: Es könnte zu einer historischen Zäsur kommen

Leere Stuehle von Nationalraeten stehen im Saal, am Dienstag, 8. September 2015, waehrend der Herbstsession der Eidgenoessischen Raete in Bern. (KEYSTONE/Peter Klaunzer)
Leere Stühle von Nationalräten.Bild: KEYSTONE

Die grosse Wahlprognose zeigt: Es könnte zu einer historischen Zäsur kommen

Wie viele Sitze verlieren die Grünen und die Grünliberalen? Und schafft es die Mitte, die FDP zu überholen? Wir haben die Chancen der Parteien in allen Kantonen analysiert.
02.09.2023, 13:0002.09.2023, 13:19
Kantons-Ressorts der CH Media-Zeitungen und Bundeshausredaktion / ch media
Mehr «Schweiz»

Es ist eine Binsenwahrheit: Die Eidgenössischen Wahlen werden in den Kantonen entschieden. Wer wissen will, wie der 22. Oktober ausgehen wird, der muss wissen, wie die Situation in den Kantonen ist. Die «Schweiz am Wochenende» erscheint in 19 Kantonen. Die starke regionale Verankerung des CH-Media-Verbundes machen wir uns zunutze: Dank unserer Kompetenz in den Kantonen sowie der Kenntnisse unserer Bundeshausredaktion und Korrespondenten wagen wir eine Wahlprognose für alle Parteien.

Bei der Interpretation ist Vorsicht geboten, nicht alle möglichen Sitzgewinne lassen sich realisieren. Dennoch wagen wir die Prognose: Der grosse Coup von Mitte-Präsident Gerhard Pfister könnte gelingen. Die Partei hat es in der Hand, die FDP punkto Nationalratssitze zu überholen.

SVP: Die Themenkonjunktur spricht für die Partei, zu alter Stärke findet sie aber nicht

Parteipraesident Marco Chiesa spricht beim Wahlauftakt Anlass der SVP Schweiz in der Swiss Life Arena, am Samstag, 26. August 2023 in Zuerich. (KEYSTONE/Michael Buholzer)
Marco Chiesa spricht beim Wahlauftakt Anlass der SVP Schweiz.Bild: keystone

Sitze 2019: 53
Wackelsitze: NW, TG
Mögliche Sitzgewinne: LU, SG, VD, ZH, JU, AG, GL
Prognose: +2

Die letzten Wahlen waren ein eigentliches Waterloo für die erfolgsverwöhnte, grösste Partei des Landes. Die SVP verlor im Nationalrat 12 ihrer 65 Sitze; der Wähleranteil ging von 29.4 auf 25.6 Prozent zurück. Der Grünen-Welle vermochte sie nichts entgegenzusetzen. Albert Rösti, inzwischen Bundesrat, musste als Parteipräsident abtreten. Seither ist der Tessiner Ständerat Marco Chiesa an der Spitze.

Bei den letzten kantonalen Wahlen deutete sich an, dass die SVP ihr Formtief überwunden hat. Die Partei befeuert die Debatte um Zuwanderung und Neutralität und macht gegen «Wokeness» Stimmung. Der Aufwärtstrend zeigte sich auch im letzten SRG-Wahlbarometer (+1.5 Prozentpunkte).

Trotzdem ist nicht zu erwarten, dass die SVP die Verluste von 2019 wettmachen kann. Ein Sitzgewinn wird ihr dank der Listenverbindung mit der FDP im Kanton Zürich zugetraut - obschon Wahllokomotive und «Weltwoche»-Verleger Roger Köppel nicht mehr antritt und der Partei rechts aussen Konkurrenz erwachsen ist mit den Corona-Massnahmekritikern von Massvoll und Aufrecht. In St.Gallen könnte die SVP den vor vier Jahren verlorenen fünften Sitz zurückzugewinnen. Die Chancen auf Rückeroberung eines Sitzes stehen auch in Luzern und der Waadt gut. Im Jura hofft die Partei, dank der Allianz mit der FDP, den frei werdenden Mitte-Sitz von Jean-Paul Gschwind zu ergattern, im Aargau jener der EVP.

Allerdings stehen den möglichen Gewinnen auch mögliche Verluste entgegen. So muss die SVP im Kanton Nidwalden um ihren Sitz zittern. Generalsekretär Peter Keller tritt nicht mehr an. Sie versucht mit dem Kantonalpräsidenten Roland Blättler den Sitz zu verteidigen. Doch auch die Mitte als grösste Landratsfraktion hat Anspruch erhoben und mit Landrätin Regina Durrer gute Wahlchancen. Im Thurgau wackelt der Sitz der abtretenden Nationalrätin Verena Herzog. Er dürfte an die FDP gehen.

SP: Stabilität nach historischem Tiefpunkt

Die Co-Praesidenten Mattea Meyer, links, und Cedric Wermuth anlaesslich dem Parteitag der SP Schweiz, am Samstag, 26. August 2023, in Biel. (KEYSTONE/Peter Schneider)
SP-Doppelspitze: Mattea Meyer und Cedric Wermuth.Bild: keystone

Sitze 2019: 39
Wackelsitze: BL, BS, GR
Mögliche Sitzgewinne: BE, SO, ZH
Prognose: 0

Die Wahlen 2019 waren ein historischer Tiefpunkt für die SP: Sie verlor zwei Prozentpunkte und verzeichnete noch einen Wähleranteil von 16.8 Prozent. Das Proporzglück war ihr aber hold: Die Partei büsste nur vier Sitze im Nationalrat ein.

Zuletzt ging es bei der SP aber wieder aufwärts. Das Abebben der grünen Welle hilft ihr offensichtlich - Wechselwähler könnten zurückkehren. Aber auch bei der SP wachsen die Bäume nicht in den Himmel: Der SRG-Wahlbarometer prognostiziert aktuell einen Zuwachs von einem Prozent.

Die besten Chancen auf Sitzgewinne hat die SP in den Kantonen Bern und Solothurn. In beiden Kantonen hatte sie 2019 Sitze verloren: Einen in Solothurn und gar zwei in Bern. Nun könnte das Pendel zurückschwingen. In Bern könnte die SP-Männer-Liste einen Sitz der Grünen zurückholen. In Solothurn muss der Grüne-Nationalrat Felix Wettstein mit einer Abwahl rechnen; Gewinnerin wäre die SP. Der Oltner Stadtpräsident Thomas Marbet und die frühere Kantonsratspräsidentin Nadine Vögeli stehen in den Startlöchern.

Basel-Stadt verliert dieses Jahr einen Nationalratssitz - das macht die Ausgangslage besonders delikat. Wackelig ist der zweite SP-Sitz, weil die Sozialdemokraten mehr als doppelt so viele Stimmen holen müssten als ihre Bündnispartner, die Grünen und die Basta. Das ist wenig wahrscheinlich. Verliert also der rot-grün-alternative Block eines seiner drei Mandate, büsst wohl die SP einen Sitz ein, die Ausmarchung findet zwischen Mustafa Atici und Sarah Wyss statt. In Basel-Landschaft könnte die GLP auf Kosten der SP einen Sitz holen, wahrscheinlicher ist indes, dass der allfällige Sitzgewinn zulasten der Mitte ginge. In Graubünden hat die SP bei den letzten Wahlen ein Mandat hinzugewonnen. Sandra Locher Benguerel tritt nicht mehr an, damit fällt bei diesem Sitz der Bisherigen-Bonus weg. Der Sitz könnte daher wieder zur GLP wechseln.

FDP: Ihr bleibt das grosse Zittern um die Sitze erspart

Parteirpaesident Thierry Burkart an der Delegiertenversammlung der FDP Schweiz, am Samstag, 6. Mai 2023, in Kreuzlingen. (KEYSTONE/Gian Ehrenzeller)
FDP-Thierry Burkhart.Bild: keystone

Sitze 2019: 29
Wackelsitze: -
Mögliche Sitzgewinne: TG, BS
Prognose: +2

Die letzten Wahlen waren schwierig für die Bundesratsparteien. Davon kann auch die FDP ein Liedchen singen. Sie verlor zwar bei der Wählerstärke weniger stark als die SP, doch bei den Nationalratssitzen waren es ebenfalls vier.

Einer davon war im Thurgau: Die FDP rechnet fest damit, dass sie diesen Wackelsitz - er wechselt bei jeder Wahl die Partei - nun wieder zurückholen kann. In Griffweite ist auch ein Sitz in Basel-Stadt. Die FDP tritt mit dem ehemaligen Regierungsrat Baschi Dürr an und könnte der GLP einen Sitz abjagen.

Der grosse Aufbruch ist also nicht zu erwarten. Gemäss dem letzten SRG-Wahlbarometer verliert die FDP 0.5 Prozentpunkte. So schlecht sind die Aussichten für die FDP indes nicht: Gemäss CH-Media-Prognose wackelt keiner der bisherigen Sitze und der Zugewinn eines jeden kann als Sieg verbucht werden.

Mitte: Die Wette des Gerhard Pfister könnte aufgehen

Der Parteipraesident der Mitte Partei Schweiz, Gerhard Pfister bei seiner Rede, anlaesslich des Sommerparteitag der Die Mitte Partei vom Samstag, 24. Juni 2023 in Sursee. (KEYSTONE/Urs Flueeler).
Der Parteipräsident der Mitte, Gerhard Pfister.Bild: keystone

Sitze 2019: 25 (CVP), 3 (BDP)
Wackelsitze: TI, GL, JU
Mögliche Sitzgewinne: AG, NW, ZH, VD, SG
Prognose: +4

Die Mitte hat ein Ziel: Sie möchte im Nationalrat stärker werden als die FDP. Deshalb gibt es auch (fast) keine Listenverbindungen zwischen diesen beiden Parteien. Gerhard Pfister, seit 2016 Parteipräsident, hatte schon immer eine 2-Phasen-Strategie: 2019 hiess das Ziel, Wähleranteile halten (was gelang). Und 2023 will die Partei wieder wachsen. Deshalb hat sie auch mit der BDP zur Mitte fusioniert. Das C im Namen ist weg, das soll ihr neue Wählerschichten erschliessen, allen voran in den bevölkerungsreichen Kantonen Zürich, Waadt, Bern und Aargau, wo die Partei traditionell schwach ist. Es ist dies die grosse Wette des Gerhard Pfister.

Der Plan könnte aufgehen. Gemäss dem SRG-Wahlbarometer legt die Mitte-Partei um 0.5 Prozentpunkte zu. Das reicht, um der FDP auf die Pelle zu rücken. Wie die Auswertung von CH Media zeigt, könnte die Mitte mehr Nationalratssitze ergattern. Das wäre insofern brisant, als die Mitte zur drittstärksten Partei in der grossen Kammer werden könnte. Knapp vor der FDP und deutlich vor den Grünen.

Wie das möglich ist? Dank der Fusion mit der BDP liegt für die Mitte in Zürich ein Sitz in Griffweite. In der Waadt könnte der Dittli-Effekt wirken. Mit der überraschenden Wahl von Valérie Dittli in die Waadtländer Regierung erhält die Partei mehr Sichtbarkeit. Im Aargau könnte die Mitte den verlorenen BDP-Sitz von der EVP zurückholen. In Nidwalden wiederum will die Mitte als stärkste Partei im Kanton, den frei werdenden SVP-Sitz holen.

Wackeln tun drei Sitze. Einer im Tessin, wo Marco Romano nicht mehr antritt. Ebenfalls herausfordernd ist die Verteidigung des BDP-Sitzes von Martin Landolt in Glarus. Die SVP könnte lachende Dritte sein, weil nebst der Mitte auch die SP antritt. Schliesslich versucht eine SVP-FDP-Allianz den Mitte-Sitz im Jura zu erobern.

Grüne: Moderate Verluste nach dem Erdrutschsieg

Balthasar Glättli, Parteipräsident Grüne Schweiz am Sonntag, 18. Juni in Bern im Abstimmungskomitee zum Klimaschutzgesetz.
Hofft auf Stimmen: Grünen-Präsident Balthasar Glättli.Bild: watson

Sitze 2019: 28
Wackelsitze: BE, SO, VD, ZH, TG
Mögliche Sitzgewinne: -
Prognose: -4

Plus 17 Sitze: Ein solcher Coup ist noch keiner Partei in der Schweiz gelungen. Den Grünen gelang 2019 ein Erdrutschsieg. Mit einem Wähleranteil von 13.2 Prozent überholte sie gar die CVP. Und seither wird diskutiert, ob die Grünen nicht in den Bundesrat gehörten.

Zuerst müssten sie ihr Resultat bestätigen, heisst es allenthalben. Danach sieht es nicht aus: Gemäss Wahlbarometer verlieren sie 3 Prozentpunkte. Doch die CH-Media-Auswertung zeigt, dass es beim Sitzverlust nicht so schlimm werden wird.

Akut gefährdet ist der vierte Berner Sitz. Diesen hatten die Grünen nur knapp erobert, zudem fehlt Wahllokomotive Regula Rytz auf der Liste. In der Waadt ist ein Sitzverlust ebenfalls wahrscheinlich. In Solothurn könnte der Grünen-Sitz wieder zurück an die SP gehen. Und im Thurgau schielt innerhalb der so genannten Klimaallianz die GLP auf den Sitz der Grünen. Auch in Zürich droht den Grünen ein Sitzverlust.

GLP: Viele Wackelsitze nach dem grossen Sieg

Parteipraesident Juerg Grossen spricht an der 52. Delegiertenversammlung der Gruenliberalen Partei, aufgenommen am Samstag, 19. August 2023 im Gottlieb Duttweiler Institute in Rueschlikon. (KEYSTONE/E ...
GPL-Parteipräsident Jürg Grossen.Bild: keystone

Sitze 2019: 16
Wackelsitze: ZH, VD, LU, SG, BS
Mögliche Sitzgewinne: AG, GR, TG
Prognose: -4

Auch die zweite Partei mit dem Grün im Namen gehörte 2019 zu den grossen Siegern - und droht auch dieses Jahr zu verlieren. Auch hier gilt: Die Verluste werden weniger stark ausfallen als die Gewinne vor vier Jahren. Also eine moderate Korrektur.

Die GLP überholte 2019 die stolze Zürcher FDP. Das kann sie 2023 nicht wiederholen, die Partei wird den sechsten Zürcher Sitz wieder verlieren. Stark wackelt zudem der zweite Sitz in der Waadt, und auch in Basel-Stadt kann die GLP den Sitz von Katja Christ kaum halten. In Luzern und St. Gallen kennt die GLP ein Auf und Ab. Im Ostschweizer Kanton haben die Grünliberalen zudem das Handicap, dass sie ohne Bisherigen antreten müssen.

Einen Sitzgewinn auf Kosten der SP wird der GLP in Graubünden zugetraut. Im Aargau käme ein Sitz in Griffweite, wenn die Partei die Grünen überholen würde. Im Thurgau aspiriert die GLP auf den dritten SVP-Sitz. Doch diesen hat auch die FDP im Visier.

Die Kleinparteien: Chance für Corona-Skeptiker

EVP-Nationalrätin Lilian Studer wird wohl ihren Sitz im Aargau verlieren - damit kommt die Partei noch auf zwei Sitze. Die Corona-Massnahmen-Skeptiker könnten einen Sitz in Zürich holen. In Genf ist damit zu rechnen, dass der MCG dem linksaussen Bündnis «Ensemble à Gauche» einen Sitz wegschnappt.

Das Fazit

2019 waren spektakuläre Wahlen, sie brachten Verschiebungen im Parteiengefüge mit sich, die in dieser Dimension aussergewöhnlich waren. Das Pendel wird dieses Jahr nicht komplett zurückschlagen, aber es zeichnet sich ab, dass Grüne und Grünliberale moderat verlieren werden. Politologe Michael Hermann spricht von einer «Korrekturwahl». Das bürgerliche Lager von Mitte, FDP und SVP dürfte leicht gestärkt werden.

Bild

(ch media)

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
176 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Hercules Rockefeller
02.09.2023 13:09registriert Juni 2014
Bin mit der Prognose grosso modo einverstandan, aber warum sollte das nun eine Zäsur historischen Ausmasses sein? #versteheichnicht 👀
2697
Melden
Zum Kommentar
avatar
Zürischnurre
02.09.2023 14:04registriert Februar 2016
In Anbetracht dessen, dass die Mieten laufend steigen, die KK immer höhere Prämien ansetzt und die Löhne stagnieren, müsste die SP eigentlich hoch im Kurs sein..
.. weil die sich genau dagegen stark macht.

Aber hey, lasst uns lieber jammern, ist doch viel lässiger.
20079
Melden
Zum Kommentar
avatar
ursus3000
02.09.2023 13:21registriert Juni 2015
"Es ist eine Binsenwahrheit: Die Eidgenössischen Wahlen werden in den Kantonen entschieden"
Und es ist eine Binsenwahrheit, dass alle Prognosen, stochern im Nebel sind. Wahlen werden am Wahltag entschieden
12819
Melden
Zum Kommentar
176
Wie lernt man eine neue Sprache effizient? Tipps von einem, der dreizehn Sprachen spricht
Der deutsche Sprachlehrer Niko Aktas spricht dreizehn Sprachen, zehn davon auf Gesprächsniveau. Er weiss, warum es gut ist, anderen in ihrer Muttersprache zu begegnen - gerade in der Schweiz.

Niko Aktas ist womöglich der vielsprachigste Mensch in der Schweiz. Der 36-Jährige kann auf Deutsch, Schweizerdeutsch, Englisch, Italienisch, Französisch, Spanisch, Niederländisch, Schwedisch, Türkisch und Russisch Gespräche führen. Auf weiteren drei Sprachen – Slowakisch, Arabisch und Albanisch – kann er sich verständigen. Eine Handvoll weiterer versteht er, zum Beispiel Rumantsch.

Zur Story