Frau Meyer, Herr Wermuth – Sie haben früher gemeinsam bei der Juso gewirkt. Bei der Wahl ins SP-Präsidium wurde befürchtet, dass Sie die Partei einer «Jusofizierung» unterziehen würden. Hatten diese Kritiker recht?
Mattea Meyer: Ich verstehe diese Kritik bis heute nicht. Einem Nationalteam wird auch nicht vorgeworfen, die Spielerinnen und Spieler aus der U-21 zu rekrutieren. Man kann doch stolz darauf sein, dass es Polit-Nachwuchs gibt, welcher in der Mutterpartei Verantwortung übernehmen möchte. Mit unserem Einsatz gegen den Rentenklau oder Miet-Abzocke geben wir konkrete Antworten auf reale Probleme der Menschen.
Im Gegensatz zur SP konnten Sie, Herr Wermuth, als Präsident der Juso die Mitgliederzahl fast verdoppeln. Kommt Ihre Politik bei Erwachsenen schlechter an?
Cédric Wermuth: (lacht) Eine Verdoppelung der Zahlen wie bei der Juso wäre natürlich schön. Wir haben auch bei der SP einen steten Mitgliederzuwachs, aber die Situation ist eine andere. Die Juso war praktisch unbekannt, als wir als Team antraten – deshalb kann man das nicht vergleichen. Aber ich bin bis heute überzeugt, dass die Mitgliederbasis entscheidend ist für die SP. Sie macht uns glaubwürdig.
Entscheidend für die SP werden die Parlamentswahlen im Herbst sein. Sie haben als Ziel Sitzgewinne im Nationalrat angekündigt und Sie wollen die Ständeratssitze verteidigen. Bereits in St. Gallen könnte das misslingen. Sind Ihre Absichten realitätsfremd?
Meyer: Wir wissen, dass es ein ambitioniertes Ziel ist, die Sitze im Ständerat zu halten. Dort braucht es möglichst viele fortschrittlich denkende Politikerinnen und Politiker. Denn die bürgerlichen Ständeräte haben von Prämienentlastung bis AHV-Teuerungsausgleich alles abgelehnt, was die Kaufkraft stärken würde.
Wermuth: Bei den Wahlen 2019 wurde die Linke insgesamt gestärkt. Für die SP waren die letzten Jahre aber schwierig. Inzwischen haben wir uns auch in den kantonalen Wahlen stabilisiert. Es ist also noch alles offen, was im Herbst passiert. Uns bereitet eher eine andere Sache Sorgen als unsere ambitionierten Ziele.
Welche denn?
Wermuth: Die Verschiebung innerhalb des rechten Blocks. Leider laufen die Mitte und die FDP der SVP hinterher, gerade in Migrations- und Wirtschaftsfragen. Das zeigt sich jetzt auch an der Urne. Wir hoffen, dass es im Oktober nicht zu einem Rechtsrutsch kommt, doch die Gefahr ist gross.
Ein Rechtsrutsch hätte Ihre Partei zum Teil selbst zu verantworten. Die SP wird von vielen nicht mehr als Arbeiterpartei wahrgenommen, sondern als Partei, die queer-feministische Elfenbeindiskurse für privilegierte Akademiker betreibt.
Wermuth: Das ist Quatsch aus der Propagandaabteilung der «Weltwoche». Die Wahlen in Zürich haben gezeigt, dass wir die wählerstärkste Partei sind bei Menschen mit tiefem Einkommen. Gerade weil wir uns um die Anliegen der Arbeiterinnen kümmern. Auch Gleichstellungsfragen sind Themen, die genau diese Menschen betreffen. Ein Beispiel: der Pflegemangel. Dort fehlen vor allem Frauen, die nicht in höheren Pensen arbeiten können, weil es keine bezahlbaren Kitas gibt. Das sind dann auch die, die am Ende des Berufslebens eine schlechte Rente haben. Menschen mit niedrigen Löhnen und Renten wurden in der letzten Legislatur vernachlässigt, während das Parlament primär Steuergeschenke für Grosskonzerne absegnete.
Meyer: Sprache ist mächtig. Ich will als Frau auch genannt werden, nicht nur mitgemeint. Dasselbe gilt für Transpersonen, sie sind genauso Teil unserer Gesellschaft. Aber als SP ergreifen wir nicht eine Genderstern-Initiative, sondern haben Initiativen für mehr Klimaschutz und bezahlbare Kita-Plätze lanciert.
Die SVP hofft, mit ihrem Kampf gegen den «Woke-Wahnsinn» Wählerstimmen zu generieren. Warum ist die SP da nicht aktiv, wenn es die Schweiz offensichtlich bewegt?
Wermuth: woke zu sein bedeutet, wachsam zu sein gegen Diskriminierung und Hass. Ich wüsste nicht, warum man da grundsätzlich dagegen sein sollte. Dass die SVP darüber nicht sprechen will, ist wenig überraschend.
Weshalb?
Wermuth: Die SVP macht gerade in Steuer- und Wirtschaftsfragen eine Politik, die eigentlich nur den Millionären an ihrer Parteispitze und den Superreichen etwas bringt. Um davon abzulenken, braucht sie Sündenböcke. Das sind je nachdem halt die Ausländerinnen und Ausländer, Frauen oder eben «woke» Linke.
Meyer: Was ich gefährlich finde, ist, dass die SVP zwar «Genderstern» und «Woke-Wahnsinn» schreit, aber es ihr im Kern darum geht, Frauenrechte einzuschränken, zum Beispiel das Recht der Frau auf Schwangerschaftsabbruch.
Das ist etwas hart formuliert. Schliesslich unterstützen nur zwei SVP-Nationalrätinnen Initiativen zu diesem Thema. In der Partei hat sich dafür keine Mehrheit gefunden.
Meyer: (lacht) Ich sitze mit diesen Menschen im Bundeshaus. Es wäre mir jetzt noch nie aufgefallen, dass sich die SVP für das Recht auf Selbstbestimmung der Frau einsetzt. Wenn es wirklich darum geht, Opfer von sexualisierter Gewalt zu schützen, verhindert die SVP das – wie bei «Nur Ja heisst Ja».
Die SP unterstellt der SVP oft billigen Populismus. Doch Sie selbst scheuen sich auch nicht davor, wenn es Ihrer Sache dient – wie kürzlich bei Ihrem Tweet zur Credit Suisse.
Ich habe in der gestrigen Arena-Sendung den FDP-Präsidenten Thierry Burkart aufgefordert, per Handschlag abzumachen, ein Boni-Verbot einzuführen.
— Mattea Meyer (@meyer_mattea) April 1, 2023
Er hat den Handschlag verweigert.
Erstaunt's? #TatenstattWorte#CSDebakel
Meyer: Nach der UBS-Rettung 2008 gab es von links bis rechts grosse Empörung darüber, dass Banker die Allgemeinheit abzocken konnten. Doch die bürgerliche Mehrheit hat dagegen nichts unternommen. Es gibt eine Diskrepanz zwischen dem, was man öffentlich sagt, und dem, was wirklich passiert. Mit diesem Handschlag wollte ich ein klares Bekenntnis der FDP erreichen. Dass sie das, was sie in der Empörung sagen, auch ernst meinen – und den Worten Taten folgen. Man kann so eine Handschlagforderung populistisch finden oder nicht.
Hand aufs Herz: Der CS-Crash muss die SP gefreut haben, dass dadurch das Asylthema in den Hintergrund gerückt ist.
Meyer: Nein, die CS-Rettung hat uns keine Sekunde lang gefreut. Rund 30'000 Menschen müssen um ihren Job fürchten, das finde ich schlimm. Dasselbe mit den 259 Milliarden Franken an Staatsgarantien: Dieses Geld fehlt im Ernstfall an anderen Baustellen – wie der Kita-Finanzierung oder der Prämienentlastung.
Wermuth: Wir hätten lieber nicht Recht bekommen. Was man jetzt sieht, ist, dass die grösste Gefahr für unseren Wohlstand in den Manager-Etagen sitzt. Diejenigen, die sich aus der Verantwortung ziehen, wenn es brenzlig wird – wie bei der CS.
Meyer: Genau. Sie sitzen lieber gemütlich in ihren Villen – während die echten Leistungsträger und Leistungsträgerinnen der Gesellschaft darum kämpfen müssen, eine würdige Rente zu erhalten. Ein Hohn!
Der SP wird oft vorgeworfen, die Zuwanderungsfrage zu ignorieren und nicht ernst zu nehmen. Überlassen Sie das Thema im Wahljahr der SVP?
Meyer: Die Schweiz soll asylsuchenden Menschen, die alles verloren haben, Schutz bieten. Denn die Schweiz ist ein Einwanderungsland, seit es uns wirtschaftlich gut geht. Doch die SVP schreit die ganze Zeit, dass die Zuwanderung das Schlimmste der Welt sei. Dann soll mir jemand von der SVP erklären, welches Spital oder Alterszentrum wir schliessen sollen oder welches Hotel und Restaurant zumachen soll. Das sind Bereiche, in denen wir auf die Zuwanderung angewiesen sind – weil die Schweiz ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Indem sie zum Beispiel zu wenig Pflegefachkräfte ausbildet.
Trotzdem haben viele Angst vor der Zuwanderung. Das wird der SVP in die Karten spielen. Denken Sie, Ihre Botschaft dringt zu den Leuten durch, um sie vom Gegenteil zu überzeugen?
Meyer: Wir nehmen die Menschen ernst und auch die berechtigten Ängste, die sie haben. Viele fürchten sich beispielsweise davor, ihre Miete nicht mehr bezahlen zu können. Die Antwort darauf ist aber nicht, die Zuwanderung zu beschränken – sondern die Abzocker-Immobilienkonzerne zu stoppen.
Auf dem Land hält man jedoch eine begrenzte Zuwanderung für eine Lösung gegen die drohende Wohnungsnot, wie eine watson-Umfrage zeigt.
Wermuth: Ich habe diese Umfrage auch gesehen. Sie zeigt, dass es ernsthafte Sorgen gibt. Doch interessant finde ich etwas anderes an den Ergebnissen.
Was genau?
Wermuth: Die mehrheitsfähigen Vorschläge sind genau diese, die wir vorschlagen – wie beispielsweise ein Mietzinsdeckel oder die Förderung des gemeinnützigen Wohnbaus.
Kommen wir nochmals zur Migration zurück: Zürich hat für eine Nationalitäten-Nennung bei Polizeimeldungen gestimmt. Das zeigt doch, dass die Bevölkerung wissen will, welche Nationalität straffällig wurde. Wieso ignoriert die SP das?
Meyer: Alt Bundesrätin Simonetta Sommaruga wurde einmal von SVP-Politikern im Parlament mit dieser Frage bedrängt. Sie antwortete treffend: Wenn wir dieses Problem benennen wollen, dann ist es primär ein Männerproblem. Das zeigt jede Statistik.
Wermuth: Und es gibt Gründe, warum Ausländer in den Statistiken häufiger erfasst sind.
Die wären?
Wermuth: Erstens können sie mehr Gesetze übertreten, wie beispielsweise das Ausländergesetz. Zweitens ist der Anteil junger Männer innerhalb der migrantischen Bevölkerung höher als bei Einheimischen. Und junge Männer sind überall auf der Welt straffälliger als andere Gruppen.
Ein anderes Problem sehen viele Menschen in linken Aktionen – Klimakleber, Schulbesetzer oder Demonstrationen wie vergangene Woche in Zürich.
Wermuth: Man muss aufpassen, nicht alles in einen Topf zu werfen. Zuerst zur Demonstration: Meine Gedanken sind bei den verletzten Polizistinnen und Polizisten. Solche Gewalt gegen einzelne Polizisten als politische Aktion zu deklarieren, ist absurd.
Und die anderen Aktionen? Am Freitag klebten sich Klimaaktivisten vor dem Gotthardtunnel auf die Autobahn.
Wermuth: Die Frage, was legitime Aktionen sind, hängt von der Bedrohung ab. Und die Bedrohung durch die Klimakrise ist immens. Es geht schlussendlich um unsere Existenz als Gesellschaft. Die meisten Aktionen des Klimastreiks sind völlig harmlos. Ob jede einzelne Klebeaktion sinnvoll ist, ist eine andere Frage. Doch diese Menschen kann man sicher nicht in dieselbe Ecke wie Terroristen stellen.
Mit ähnlichen Aktionen haben Sie früher auch für Aufsehen gesorgt: als Sie sich einen Joint vor SP-Delegierten anzündeten. Kiffen Sie noch immer in dieser Zeit der Multikrise?
Wermuth: (lacht) Nein, das war nie meine Droge. Das kommt vielleicht einmal im Jahr vor. Wir wollten damals ein Tabu brechen, weil die Politik so getan hat, als könne man das Drogenproblem lösen, indem man wegschaut. Das ist lange her. Ich habe nach wie vor keine Probleme mit provokativen Aktionen, aber ich habe eine andere Rolle als SP-Präsident. Die heutigen Jusos halten mich für genauso «bünzlig» und langweilig, wie ich damals den SP-Präsidenten. Das gehört zur Rollenteilung.
Und Herr Wermuth: Es gibt einen Unterschied zwischen "woke" und "Woke-Wahnsinn" Unter woke sind ein paar Dinge gelaufen, die halt von vielen - unter anderem von mir - als Wahnsinn angesehen werden, den es zu verhindern gilt.
Zudem hat die SP auch in anderen Bereichen nicht erkannt, dass zwar die grundsätzliche Richtung stimmt, dass man es aber übertreibt. Und wenn man übertreibt, schlägt halt das Pendel zurück. Die SP wird es schwer haben im Herbst.