Herr Grossen, es gibt Stimmen, die sagen, die GLP drehe sich wie eine Fahne im Wind. Was sagen Sie dazu?
Jürg Grossen: Die Grünliberalen denken differenziert, überwinden das Schwarz-Weiss-Denken und sind nicht im Links-Rechts-Schema gefangen. Wir fahren seit Jahren eine klare, verlässliche politische Linie zu allen Themen.
Bei Klima- und sozialen Fragen stimmt die GLP oft mit den Grünen und SP überein. Aber in Finanz- und Steuerfragen geht sie mit der Mitte, FDP, SVP. Wie erklären Sie das der Wählerschaft?
Das ist genau die richtige Positionierung und bedeutet, dass wir auf allen Ebenen nachhaltig sind. Mit links bringen wir den Klima- und Umweltschutz voran. Gleichzeitig wollen wir gemeinsam mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft das Klima und die Umwelt schützen. Nachhaltigkeit ist auch im Finanzbereich zentral. So wie die Linken Finanzpolitik machen, geht das für uns nicht.
Weshalb?
Wenn der Staat mehr ausgibt, als er einnimmt, dann hinterlassen wir unseren Kindern einen Schuldenberg. Stattdessen sollten wir Menschen, die etwas leisten wollen, die Möglichkeiten geben, eigenständig zu bleiben. Wir Grünliberalen wollen dann staatliche Hilfe für Menschen, wenn sie es trotz Willen aus eigener Kraft nicht schaffen. Denn zurücklassen sollte man niemanden. Doch Leistung soll sich lohnen. Nachhaltigkeit im Finanzbereich bedeutet deshalb auch, kompetitiv sein zu können.
Das tönt wie aus einer Broschüre der FDP. Die Freisinnigen hatten beim Klimaschutzgesetz die Ja-Parole beschlossen – gibt es noch Unterschiede zu den Grünliberalen?
Wir haben sicher einige Gemeinsamkeiten, aber die FDP hat eine Tendenz zum Selbstbedienungsliberalismus, in dem jeder vor allem für sich schaut. Wir haben einen volkswirtschaftlichen Fokus und betrachten, welche Auswirkungen politische Entscheide für das grosse Ganze haben.
Das Klimaschutzgesetz wurde angenommen – rechte Kreise sehen Sie als Profiteur durch ihre Elektro- und Energieunternehmen.
Das ist schon weit hergeholt. Ich wurde Politiker, weil ich mich als Unternehmer geärgert habe, dass viele in der Wirtschaft Entscheidungen treffen, die für nächste Generationen schlecht sind – ebendiese Selbstbedienungsliberalen. Mir war es immer wichtig, in meinen Firmen Nachhaltigkeit zu etablieren. Unsere Hauptfirma, Elektroplan Buchs & Grossen AG, ist spezialisiert auf gewöhnliche Elektroplanung. Planungen für Solaranlagen sind ein sehr kleiner Prozentbereich unserer Tätigkeit und das wird auch so bleiben. Aber ja: Wir wollen unsere Firmen so aufstellen, dass sie eine Zukunft haben und richten sie auf Nachhaltigkeit aus. Wir haben jedoch definitiv keine Zapfstelle beim Bund, um nach dem Ja zum Klimaschutzgesetz Subventionen zu beziehen. Wir planen kaum Wohnbausanierungen, wo der grösste Teil der Subventionen für den Heizungsersatz an die Gebäudebesitzer fliessen wird.
Dennoch verdienen Sie Geld mit erneuerbaren Energien.
Es soll nicht nur Profite aus dem Handel mit Gas und Öl oder für die Stromgrosskonzerne geben. Ich bin dafür, dass Menschen und Unternehmen mit Massnahmen zum Klima- und Umweltschutz Geld verdienen. Wichtig ist mir der Energieeffizienzbereich. Zahlreiche Firmen könnten viel Strom einsparen – wie wir das selbst vorleben bei uns im Geschäft. Hier haben wir als Wirtschaft und Gesellschaft einen grossen Hebel.
Wie ist ihr Stromverbrauch?
Verglichen mit ähnlichen Gebäuden haben wir einen Stromverbrauch von 20 Prozent für unsere Büros mit 45 Arbeitsplätzen und zwei Wohnungen. Wir messen das seit 15 Jahren minutiös, haben also ohne Komforteinbussen 80 Prozent reduziert und erreichen an Sommertagen einen Selbstversorgungsgrad von über 98 Prozent. Das ist nur möglich dank der Digitalisierung. Wir haben praktisch für alles, das Energie verzehrt, Sensoren, Fühler oder Melder zur Steuerung eingebaut. Mit den Solaranlagen auf den Dächern und an den Fassaden können wir uns dank des tiefen Verbrauches zu einem erheblichen Teil selbst versorgen, auch im Winter.
Der Ausbau der Erneuerbaren harzt schweizweit. Glauben Sie trotzdem, dass wir die Energiewende ohne Blackouts schaffen?
Erstens harzt es weniger als auch schon. 2022 haben wir mehr als eine Terawattstunde Solarstrom zugebaut. Das ist ein absoluter Rekord. Heute produziert die Fotovoltaik bereits rund 7 Prozent des Schweizer Strombedarfs. Zweitens ist die Versorgung ohne Blackout möglich. Aber die bürgerlichen Parteien stehen seit Jahren mit beiden Füssen auf der Bremse.
Wie meinen Sie das?
Das Parlament und der Bundesrat haben zu lange geschlafen und machen es teils noch immer – zum Beispiel im Bereich der Energieeffizienz. Obwohl eine Studie des Bundes zeigt, dass wir bis zu 40 Prozent Strom ohne Komforteinbusse einsparen könnten, wehren sich die Bürgerlichen gegen entsprechende Gesetze.
Warum wird das nicht umgesetzt?
Wir haben im Jahr 2013 eine Stromeffizienz-Initiative eingereicht, ich war im Initiativkomitee. Im Jahr 2016 haben wir sie aufgrund der klaren Ziele in der Energiestrategie 2050 zurückgezogen. Kürzlich wurden nun vom Ständerat diverse Effizienzverbesserungen wieder aus dem Mantelerlass herausgestrichen, das ist völlig unverständlich.
Und die Antwort darauf ist eine neue Initiative?
Wenn das nicht noch angepasst wird, sollten wir uns überlegen, eine Stromeffizienz-Initiative 2.0 zu starten. Denn es ist wirklich irre, was wir machen. Wir schlagen uns die Köpfe ein wegen alpinen Solaranlagen oder wegen Wind-, Atom- und Wasserkraft, statt den vorhandenen Strom effizienter zu nutzen – denn damit könnten wir die Jahresproduktion aller AKWs in der Schweiz ohne negative Konsequenzen einsparen.
Stichwort Geld: Die GLP-Wählerschaft hat laut Umfragen ein höheres Einkommen als bei den anderen Parteien. Was tut ihre Partei für die Menschen an der Armutsgrenze?
Wir stehen für soziale Sicherheit ein. Wer arbeitet und vollen Einsatz gibt, der soll sein Leben eigenständig gestalten können. Die Einkommen sollen so sein, dass diese Menschen ihr Leben bestreiten können. Und für all jene, die Unterstützung brauchen, arbeiten wir an politischen Mehrheiten für gezielte Unterstützung, etwa für die Entlastung bei den Krankenkassenprämien und für eine 13. AHV für all jene, die darauf angewiesen sind.
Die Gewerkschaft Unia fordert Mindestlöhne von 4500 bis 5000 Franken für Arbeitnehmende mit Berufsabschluss. Wie müssen sich die Löhne in der Schweiz entwickeln?
Man muss sich bewusst sein, wenn die Einkommen steigen, wird auch das Leben teurer. Lohnkosten werden auf die Preise überwälzt. Darum bin ich skeptisch, ob man die Mindestlöhne erhöhen soll. Im Grossen und Ganzen sind wir in der Schweiz gut unterwegs.
Eine Auswertung der AHV-Daten hat gezeigt, dass seit 1991 die Löhne der untersten Einkommensklasse um knapp 20 Prozent gestiegen sind, während die obersten ein Plus von 160 Prozent verzeichnen konnten. Finden Sie das fair?
Es ist zu polemisch, nur die allertiefsten und die allerhöchsten Einkommen zu vergleichen und auf den Unterschied hinzuweisen. Im Durchschnitt geht es den Schweizerinnen und Schweizern gut, der Mittelstand hat ein solides Haushaltseinkommen.
Um Tiefverdienende zu entlasten, wollen die Grünen Krankenkassenprämien einkommensabhängig machen. Wäre das eine Lösung?
Wir tun bereits sehr viel zum sozialen Ausgleich, deshalb finde ich die reine Einkommensabhängigkeit den falschen Weg. Wir setzen uns aber im Parlament für eine bessere Entlastung der tieferen Einkommen bei den Krankenkassenprämien ein.
Aber gewisse Leistungen aus der Krankenkasse sind auch an den Lohn angepasst. Wieso sollte sich das nicht in den Prämien widerspiegeln?
Mit der kantonalen Prämienverbilligung haben wir bereits eine einkommensabhängige Entlastung der Krankenkassenprämien. Diese sollte aber auch bedarfsgerechter werden, denn aktuell herrscht in den Kantonen ein Flickenteppich.
Was stört Sie daran?
Einige Kantone vergeben Prämienverbilligungen mit der Giesskanne und andere geben sie denen, die sie wirklich brauchen. Wir sind dafür, dass man den sozialen Hintergrund besser prüft und bedarfsgerecht unterstützt.
Die Menschen sehen sich mit steigenden Preisen konfrontiert. Nun hat der internationale Währungsfonds (IWF) bestätigt, dass ein Haupttreiber für die Inflation die seit Jahren rückläufige Gewinnbesteuerung von Unternehmen ist. Ihr Ansatz?
Wir Grünliberalen befürworten den kantonalen Steuerwettbewerb – mit gewissen Leitplanken. Etwa im Steuerdumping. Ich bin selbst Unternehmer und überzeugt, das Beste für Kleinunternehmer ist, wenn sie tiefe Steuern bezahlen, damit sie den Gewinn in Innovation investieren können. So entstehen gut bezahlte Arbeitsplätze. Aber Firmen sollen unter dem Strich ihren Anteil zahlen, da auch sie stark vom Staat und den guten Rahmenbedingungen profitieren. Deshalb haben wir die Einführung der OECD-Mindeststeuer von 15 Prozent für Grossunternehmen befürwortet.
Tiefe Steuern bei den Unternehmen müssen wieder die natürlichen Personen ausgleichen.
Wir sehen das Steuersystem als recht gut austariert. Im Kanton Bern sind die Steuern für natürliche Personen sehr hoch, da wäre ich tendenziell eher für eine Steuersenkung. Aber in anderen Kantonen wie Zug ist das nicht so. Am Schluss ist es gut, dass es einen gewissen Wettbewerb zwischen den Kantonen gibt, das fördert Steuerinnovationen.
Steuersenkung für natürliche Personen: auch bei der Progression für Topverdiener?
Nein, ich halte die Progression für sinnvoll. Ich habe selbst erlebt, wie es ist, wenn man wenig verdient – weiss aber auch, wie es ist, wenn man sich etwas erarbeitet hat und besser verdient. Wem es besser geht, der soll verhältnismässig auch mehr für die Allgemeinheit beitragen. Ich bezahle meine Steuern ohne Groll, obwohl sie hoch sind. Bei den obersten Einkommen könnte die Progression aber aus meiner Sicht noch etwas steiler sein. Gleichzeitig machen diese aber schon heute einen erheblichen Teil unserer Steuereinnahmen aus. Zu brüske Steuererhöhungen für die Superreichen können auch negative Effekte auslösen, wie man vor Kurzem in Norwegen gesehen hat.
Wo würden Sie die Grenze ziehen – bei den Top 5 Prozent?
Vielleicht wird es am Schluss eher bei den Top 1 Prozent sein, denn da handelt es sich um enorm hohe Einkommen, die nicht mehr viel mit Leistung zu tun haben. Wir dürfen es aber nicht übertreiben. Wir müssen schauen, dass diese Menschen in der Schweiz bleiben. Es gibt neben den Steuern einige Faktoren, welche das Land für Topverdiener attraktiv machen, wie Sicherheit, die Infrastruktur, ein liberaler Arbeitsmarkt und die gelebte Demokratie. Diesen austarierten Mix aufs Spiel zu setzen, wäre gefährlich.
Gleichstellung ist eines der GLP-Kernthemen: Wie setzt sich die Partei für Frauen ein?
Es braucht neben der Reform der zweiten Säule (BVG) eine Individualbesteuerung, da insbesondere Frauen zu viele Nachteile erleben mit der gemeinsamen Veranlagung. Zudem soll der Elternurlaub gleichgestellt werden. Weiter braucht es eine bessere Kita-Finanzierung.
Gleich langer Elternurlaub für Vater und Mutter?
Viele denken, dass dadurch länger Arbeitskräfte im Geschäft fehlen. Aber Studien zeigen, dass Frauen damit schneller in den Arbeitsmarkt zurückkehren und hochprozentiger arbeitstätig bleiben. Zudem hätte ein Unternehmen keinen finanziellen Anreiz mehr, ein Geschlecht zu benachteiligen, weil beide gleich lange im Elternurlaub sind. Das wäre echte Gleichstellung.
Zum Schluss noch zu den Wahlen: Die GLP erhofft sich im Herbst 10 Prozent Wähleranteil und einen Ständeratssitz, um einen Bundesratssitz einzufordern. Sind Sie noch immer so optimistisch?
Ja, ich bin überzeugt, dass das zwar ambitionierte, aber erreichbare Ziele sind. Ob es am Ende so kommt, wird sich zeigen. Auch der Ständeratssitz wird ein harter Kampf. Wir wollen in diesem Land mitregieren.
Auch wenn Sie die Ziele erreichen würden, ist der Bundesratssitz unrealistisch. Bei den Grünen sagte man nach dem letzten Wahlerfolg, eine Schwalbe mache noch keinen Sommer.
Wenn man vom Wähleranteil her die eigenen Bundesratssitze nicht mehr rechtfertigen kann, gehört es in der Schweiz dazu, das einzugestehen. Das Parlament ist repräsentativ für die Bevölkerung, aber der Bundesrat ist das aktuell nicht. Ich erwarte deshalb von der FDP und der SP, dass sie eingestehen, dass sie übervertreten sind. Die Mitte, ehemalige CVP, hat das gemacht, auch wenn es für sie schmerzlich war.
Sie selbst wollen für den Kanton Bern in den Ständerat, Fraktionspräsidentin Tiana Moser für Zürich – wer von ihnen hat grössere Bundesratsambitionen?
Ich glaube, wir haben beide ähnliche Ambitionen – wir wollen in den Ständerat gewählt werden. Wie es dann weitergeht, ist offen.
Sie nehmen ihre Position in unterschiedlichen Themen ein und lassen sich nicht in Schubladen stecken, werden in der Folge von "hüben und drüben" (den klassischen Platzhirschen der "Altparteien") angefeindet, können aber dafür auch vermitteln und überbrücken!
Ich selber bin mal "links-grün" sozialisiert worden, entwickle aber immer mehr Sympathien für diesen "grünliberalen" Ansatz.
Wenn wir ehrlich sind, sind 500k gerade noch ok…