Herr Glättli, wenn die Schweiz bereits klimaneutral wäre, worauf würden die Grünen ihre Politik ausrichten?
Balthasar Glättli: Wir würden uns darauf fokussieren, diese Transformation zur Klimagerechtigkeit beizubehalten und das, was uns dahin gebracht hat, in die ganze Welt zu transportieren. Wir würden uns aber auch für eine Welt einsetzen, in der die Vielfalt nicht mehr als Bedrohung, sondern als Bereicherung angesehen wird. Eine Welt, in der alle Menschen, die hier sind, mitreden können und in der viel mehr grün statt grau ist. Uns geht es um die Vielfalt des Lebens, die Biodiversität, die wir auch in einer klimaneutralen Welt bewahren und stärken müssen.
Sie schaffen es, Debatten immer wieder ins Grüne zu lenken. Glauben Sie wirklich, Probleme der Gesellschaft mit der Klimafrage zu lösen?
Ich bin froh, dass es so wahrgenommen wird, dass ich immer über grüne Themen spreche. Als Parteipräsident ist es meine Aufgabe, aufzuzeigen, wie die Klima- und die Biodiversitäts-Krise als grössten Herausforderungen unserer Zeit gelöst werden können. Und dass man damit gleichzeitig weitere soziale und wirtschaftliche Probleme löst!
Kaum haben die Grünen mit dem Klimaschutzgesetz einen Sieg eingefahren, doppeln sie mit der Klimafonds-Initiative nach. Der Bund soll bis zu sieben Milliarden Franken in die ökologische Wende investieren. Noch mehr Schulden?
Der Staat soll diese Investition in die Zukunft tätigen, ohne sie an die Schuldenbremse anzurechnen. Denn es ist ein «Green New Deal», der die Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft zur Klimaneutralität anstossen wird. Bildung, Kultur und das Gesundheitswesen werden auch von der öffentlichen Hand finanziert. Aber das Wichtigste und Fundamentalste – die Klimatransformation – nicht.
Mit dem Klimaschutzgesetz haben wir uns bereits für Subventionen zum Klimaschutz ausgesprochen – etwa bei neuen Heizungen.
Ja, aber dies war das allererste Mal, dass die Schweiz mit Bundesmitteln direkt jene finanziell unterstützt, die vorwärtsgehen möchten. Das bestehende Gebäudeprogramm wird über die CO₂-Abgabe finanziert.
Kritiker des Klimaschutzgesetzes befürchteten, dass die Ziele nur mit diversen Verboten erreicht werden können. Welche sind unumgänglich?
Man kann es Verbote nennen oder nicht: Vorschriften bleiben ein wichtiges Instrument, um die Transformation voranzubringen und den Markt zu lenken. Wir fordern zum Beispiel, dass auch die Schweiz rasch beschliesst, keine neuen Verbrennerautos mehr zuzulassen – so wie das die EU ab 2035 plant.
Klimaneutralität kann also nur durch Verbote herbeigeführt werden?
Es braucht den richtigen Mix an Instrumenten wie die CO₂-Lenkungsabgabe, öffentliche und private Investitionen in eine grüne Infrastruktur sowie Vorschriften. Ich finde es sonderbar, wenn Bürgerliche Verbote dämonisieren. In anderen Bereichen, wie früher beim Bankgeheimnis und heute, wenn es um Aktionen von Klimaaktivisten geht, haben sie mit Verboten kein Problem. Gerade im Umweltbereich bringen klare Regulierungen Fortschritt: so ging die Schweiz 1986 weltweit mit dem Phosphat-Verbot für Waschmittel voran und hatte als erstes Land keine schäumenden Gewässer mehr mit sterbenden Fischen. Ich habe den Eindruck, für gewisse Bürgerliche ist das Problem nicht, dass der Staat etwas verbietet, sondern dass der Staat beim Klimaschutz überhaupt handelt. Es braucht aber kluge Regulierungen, auch um Investitionen in den Klimaschutz zu fördern.
Was sagen Sie zum Plan einiger FDP- und SVP-Vertreter, die neue AKWs bauen wollen?
Nein. Wir Grünen sind klar gegen neue AKWs. Sie sind nicht nur unsicher. Sondern sie kommen zu spät und sind viel zu teuer. Damit binden sie Milliarden, die wir jetzt investieren müssen, in einen Massnahmenmix aus bestehender Technik, um Energie-Effizienz und eine klimagerechte Stromversorgung zu erreichen.
Welchen Plan verfolgen Sie?
Wir müssen vorab auf Stromeffizienz setzen, und darauf, die Verschwendung stoppen. Eine Studie des Bundes hat gezeigt, dass wir 25 bis 40 Prozent des Stromverbrauchs einsparen können, wenn wir überall die neuste und sparsamste Technik nutzen – speziell in der Industrie, die den grössten Verbrauch hat. Der Bund sieht diese Effizienzeinsparung deshalb auch in der Energiestrategie vor, da wir damit auf alle AKW verzichten können. Zusätzlich zur Effizienzoffensive braucht es auch eine Solaroffensive. Darum fordern wir Grünen Solarpanels auf allen Neubauten.
Die Grünen pushen erneuerbare Energie. Doch Bürgerliche kritisieren, dass sie auch Grossprojekte bei Solaranlagen oder Windrädern blockieren.
Gegen Windräder wehrt sich vorab eine Partei: die SVP. Windkraft ist ein sehr wichtiger Beitrag für den Winterstrom, aber nicht in einer Breite wie etwa in Deutschland. Wir haben im Kanton Zürich mit dem Grünen Bauvorsteher Martin Neukomm einen Regierungsrat, der zeigt, dass die Grünen bei der Windenergie vorwärtsmachen wollen.
Aber die Grünen wehren sich auch gegen das Grossbauprojekt Grengiols-Solar im Kanton Wallis.
Das Projekt wurde mit jeder Konkretisierung immer kleiner. Statt einer knappen Million Solarpanels soll es nur noch rund 160'000 geben. Die Walliser Grünen wehren sich hier aus den gleichen Gründen wie die Bevölkerung vor Ort. Grengiols-Solar benötigt neue Zufahrtsstrassen, Leitungen und diverse Sicherheitsvorkehrungen etwa wegen Lawinengefahr. Die Akzeptanz der Bevölkerung für Solar, auch Alpinsolar, liegt dort, wo es bereits eine Infrastruktur gibt.
Am liebsten wäre es vielen lediglich in Industrienähe.
Dort wäre es passend, aber Solarpanels könnten beispielsweise auch neben der Skipiste stehen. Überall dort, wo es eine Infrastruktur hat, wo man den Strom auch ableiten kann. Bestehende Dächer und Süd-Fassaden, Lärmschutzwände, zu überdeckende Parkplätze - die gibt es alle auch im alpinen Bereich. Dort kann man Solar-Winterstrom erzeugen.
Die Klimapolitik verärgert Aktivisten, die sich auf die Strassen kleben, während der Nationalrat einen Autobahnausbau befürwortet. Haben Sie Verständnis für diesen Protest oder sollte ihnen den Prozess gemacht werden, wie FDP-Chef Thierry Burkart fordert?
Dass die FDP den gewaltlosen Protest gleich bekämpfen will wie Terrorismus, ist absolut übertrieben. Umgekehrt verstehe ich nicht, wenn ein Aktivist, der zu solchen Mitteln greift, dann per Flugzeug von Zürich nach Paris fliegt, wo es ja einen TGV gibt. Gut verstehen kann ich dagegen, dass man wegen der Klimapolitik der politischen Mehrheit im Parlament verzweifelt. Es ist schon absurd, für ein Klimaschutzgesetz zu stimmen und gleichzeitig Milliarden in neue Autobahnen zu investieren. Von solchen Widersprüchen lenkt die FDP ab, indem sie Menschen, die protestieren, kriminalisieren will.
Sie selbst organisierten 1997 Nacktdemos gegen den Autoverkehr unter dem Motto: «Lieber flitzen statt rasen». Wann fordern Sie, alle Autos in den Städten verbieten?
Autos gehören im Grundsatz als privates Verkehrsmittel nicht in die Stadt. Es wird weiterhin Autos und Lieferwagen brauchen für das Gewerbe und Handwerker, für Lieferdienste und Taxis und Car-Sharing-Angebote. Aber auch elektrische Autos brauchen Platz. Zu viel Platz. Unsere Grüne Verkehrspolitik lautet: Verkehr vermeiden, verlagern und den Rest verträglich gestalten. Ich stimme da mit dem Deutschen Grünen Vizekanzler Robert Habeck überein, der sagte, dass die Mobilitätswende nicht einfach die Elektrifizierung des Staus bedeutet. Wir müssen Mobilität intelligenter denken
Von Mobilität zu Luxusmobilität: Inlandflüge für Privatjets zu verbieten, ist laut einer watson-Umfrage mehrheitsfähig. Das wäre doch Ihr Traum.
Wir würden grundsätzlich Inland- und Kurzstreckenflüge verbieten – Rettungsflüge ausgenommen –, aber Yes, fangen wir mit Privatjets an. (lacht)
Ab wie vielen Stunden, in denen eine Destination mit dem Zug erreichbar wäre, befürworten Sie ein Flugverbot?
Ich stelle mir das zumindest so vor, wie es seit Ende Mai 2022 dank eines Vorstosses der Grünen für die Bundeshausparlamentarier gilt: Sechs Stunden.
Damit auch Bundesrat Cassis nicht mehr mit dem Bundesratsjet ins Tessin fliegen könnte.
Zum Beispiel. Wir sollten aber nicht spezielle Regeln für Einzelpersonen machen. Es ist einfach absurd, dass man kurze Strecken fliegt, wenn wir Zugverbindungen haben, die nicht viel länger dauern. Es wäre zudem wichtig, dass wir endlich Kerosin wie Benzin oder Diesel besteuern, dann würden auch diese Dumpingpreise der Flugbranche aufhören.
Aber diverse Fluggesellschaften haben sich verpflichtet, bis 2050 eine CO₂-neutrale Bilanz zu erreichen.
Es gibt Green und es gibt Green Washing. Das ist leider Letzteres.
Die Swiss setzt sich für Sustainable Aviation Fuels (SAF) ein, das sollen nachhaltige, solare Flugtreibstoffe sein. Reicht das nicht?
Selbst wenn solche Treibstoffe zu 100 Prozent aus erneuerbarer Energie hergestellt und Flugzeuge nur damit fliegen würden, hätte man noch immer einen Klimaeffekt wegen den Kondensstreifen. Es wird in Zukunft zwar weiterhin Flieger brauchen, aber die billige Massenmobilität in der Luft wird es nicht mehr geben.
Kürzlich forderten Sie, dass der Bund bei Militärausgaben spart und dafür Zusatzinvestitionen beim Klimaschutz macht. Eine Forderung, die während des Ukraine-Krieges speziell daherkommt, oder nicht?
Wieso?
Umfragen zeigen, dass die Zustimmung zur Notwendigkeit einer leistungsfähigen Armee seit dem Ukraine-Krieg steigen.
Okay, eine Gegenthese: Die Wahrscheinlichkeit, dass der Iwan an der Ostgrenze der Schweiz aufmarschiert, war nie kleiner als jetzt. Ist das wahr oder nicht?
Das ist nicht an mir, das zu beurteilen. Meine Frage war eine andere.
Nüchtern gesehen teilen auch die Experten der Armee diese Einschätzung. Und wir sehen ja: die gefürchtete, russische Armee ist angewiesen auf eine wilde Söldnertruppe, die sogar einen halben Aufstand provoziert hat. Militärisch ist der russische Angriffskrieg tatsächlich eine grosse Bedrohung für die Ukraine und bringt Tod und Verwüstung. Sorgen machen würde ich mir auch in Polen oder in anderen an Weissrussland oder Russland angrenzenden Staaten. Aber nicht für die Schweiz.
Kommen wir zum Schluss noch zu den Bundesratswahlen: Sie wollen eine Kandidatin oder einen Kandidaten stellen – aber auch die Grünliberalen liebäugeln mit einem Sitz.
Sie haben jetzt wieder einen Schritt zurück gemacht. Wir Grünen sind seit sechzehn Jahren konstant im Ständerat vertreten. Und haben seit Jahrzehnten bewiesen, dass wir in Kantonen und Städten verantwortungsvoll mitregieren.
Es gibt verschiedene Szenarien, wie die Sitzverteilung im Bundesrat in Zukunft aussehen könnte. Wie würden Sie die Zauberformel verändern?
Mit einem Sitz für die Grünen. Man muss sich klar vor Augen halten, was der Sinn der Zauberformel ist: Alle wesentlichen Kräfte der Schweiz sollen an der Regierung beteiligt sein. Heute sind wir so weit davon entfernt, wie schon lange nicht mehr. Abgesehen von der kurzen Protestphase der SVP nach der Blocher-Abwahl. Aber sonst waren noch nie so viele Wähler mit ihrer Partei nicht im Bundesrat vertreten. Es braucht eine Grüne Vertretung im Bundesrat.
2019 hatten die Grünen eine grosse Chance mit der Kandidatur von Regula Rytz – aber ohne Unterstützung von Mitte-Rechts. Selbst die GLP beschloss Stimmfreigabe. Wird es dieses Mal anders?
Damals war es eine Enttäuschung. Doch wir haben unsere Lehren gezogen und packen die nächste Chance. Wichtig ist, dass wir stark bei den Wahlen am 22. Oktober abschneiden und stark im Parlament bleiben. Die neue Fraktion wird dann über die Strategie entscheiden. Und unsere Findungskommission führt bereits seit längerem Gespräche mit möglichen Kandidatinnen und Kandidaten. We are more than ready.
Zch habe aber auch grosse Mühe mit nachfolgendem Punkt, gestern in der Tagespresse zu lesen:
"Trotz Klima-Ja – die meisten Jungen kennen keine Flugscham
Muss sich schämen, wer diesen Sommer in die Ferien fliegt? Nein, findet eine deutliche Mehrheit der jungen Schweizerinnen und Schweizer nach der Abstimmung über das Klimagesetz. "