Herr Burkart, die FDP will dieses Jahr die SP als zweitstärkste Partei im Parlament ablösen. Müssten sie nicht eher Angst haben, dass ihnen die Grünen gefährlich kommen?
Thierry Burkart: Nein, das müssen wir nicht. Die Grünen haben bei den kantonalen Wahlen stark verloren. Wir hingegen konnten massiv zulegen – bis zum CS-Debakel. Danach haben wir im Tessin und in Luzern einige wenige Prozente verloren. Das war aber ein kurzfristiger Effekt.
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Doch der Ruf nach einem grünen Bundesrat wird immer lauter.
Ich gehe davon aus, dass die Grünen an den Wahlen verlieren werden. Dann werden sie auch keinen Anspruch auf einen Bundesratssitz erheben. Es sei denn, sie werden stärker als die Mitte. Aber dann müsste eher die Mitte um ihren Bundesratssitz bangen und nicht wir.
Mitte-Chef Gerhard Pfister behauptete genau das Gegenteil. Er stellte die zwei FDP-Sitze infrage.
Das würde ich an seiner Stelle auch tun, um von sich abzulenken. Die Mitte hat nicht nur einen Bundesratssitz, sondern sie belegt auch das Amt des Bundeskanzlers. Die Diskussion, ob die Partei damit übervertreten ist, sollte man irgendwann führen. Doch solange es keine Rücktritte gibt, entspricht es nicht der politischen Kultur der Schweiz, einen Bundesrat abzuwählen.
Die FDP wird oft als Partei für reiche Banker bezeichnet. Wie setzen sie sich für die Mehrheit der Bevölkerung ein, die aktuell mit Kaufkraftverlusten zu kämpfen hat?
Es hat eine Teuerung stattgefunden, das ist richtig. Ich möchte aber auch festhalten, dass die Inflation und Arbeitslosigkeit in der Schweiz im Vergleich zum Ausland tief sind. Das hat unter anderem mit der freisinnigen Politik zu tun. Wir sorgen dafür, dass unsere Wirtschaft wettbewerbsfähig bleibt und Arbeitsplätze geschaffen werden. Und: Die Mehrheit der Menschen spüren die Preiserhöhungen bei Energie und Strom. Deshalb setzen wir uns für eine höhere Eigenversorgung und weniger Import ein.
Auch die Mieten steigen wegen des neuen Referenzzinssatzes. Gleichzeitig droht eine Wohnungsnot. Was ist das Rezept der FDP?
Der Schweiz fehlen 51’000 Wohnungen – ein absoluter Rekord. Am schwierigsten präsentiert sich die Situation übrigens in den von Linksgrün regierten Städten Zürich, Basel. Diese verhindern, dass gebaut werden kann. Übermässige Vorschriften zum Denkmalschutz, zu viele Möglichkeiten für Einsprachen und lange Bewilligungsverfahren sind die Haupttreiber dieser Entwicklung. Die FDP fordert deshalb weniger hinderliche Regeln und schnellere Verfahren, damit es langfristig mehr Wohnraum gibt.
Die Linken werden Sie niemals überzeugen können, Denkmalschutz und Einsprache-Möglichkeiten abzuschwächen.
Da haben Sie wohl recht. Deshalb besteht das Problem ja in den Linksgrün regierten Städten am meisten. Um in der Wohnpolitik vorwärtszukommen, muss man zu Kompromissen bereit sein. Ich stelle fest, dass die Linken ihre Macht in den Städten ideologisch ausnützen. Im Gegensatz zu früher ist vor allem die SP zu weniger Kompromissen bereit. Im Gegenteil: Beim Ausbau wichtiger Energie- oder Strominfrastruktur sind sie oft die, welche mit ihren Organisationen Einsprachen erheben. Das ist doch widersprüchlich.
Nochmals zurück zur Politik für die Reichen: Die FDP-Nationalräte stimmten im Mai für einen Vorstoss, welcher Steuersenkungen für die reichsten sieben Prozent forderte. Warum?
Das war ein SVP-Vorstoss.
Aber fast alle FDP-Parlamentarier waren dafür. Für 73 Prozent wäre die Steuerrechnung teurer geworden, profitiert hätten nur die Reichsten.
Sie übernehmen das Narrativ der Linken. Es ging nicht um Steuersenkungen als solches, sondern darum, die Steuererklärung zu vereinfachen und die Progression in der direkten Bundessteuer zu glätten.
Die Progression zu glätten bedeutet ja indirekt Steuersenkungen.
Wir wollen keine Steuersenkungen auf Bundesebene, das wäre jetzt der falsche Moment. Doch die starke Progression schafft Fehlanreize, sodass die Menschen abgestraft werden, wenn sie mehr arbeiten und damit mehr verdienen. Das führt dazu, dass wir zu wenig Arbeitskräfte haben, und das führt zu einem Wohlstandsverlust.
2019 bezahlten laut der Swiss Inequality Database (SID) die 5 Prozent der Top-Verdiener 43.7 Prozent des gesamten Steueraufkommens. Ist das genug oder zu wenig?
Die Allgemeinheit ist auf diese Minderheit angewiesen. Man muss anerkennen, dass sie die Hauptlast an unseren Steuererträgen tragen und damit wesentlich zur Finanzierung der Allgemeinheit beitragen.
Eine Sonderauswertung der AHV-Daten hat gezeigt, wie stark die Löhne in der Schweiz seit 1990 zugelegt haben. Während der Medianlohn nur um 19,3 Prozent stieg, waren es beim obersten Niveau 160 Prozent und beim zweitobersten 95 Prozent. Sollte sich das nicht in den Steuern widerspiegeln?
Das tut es. Wir haben eine enorme Progression in der direkten Bundessteuer. Zudem zeigen diese Zahlen ja auch, dass das allgemeine Einkommen gestiegen ist.
Zwischen knapp 20 Prozent und 160 Prozent besteht eine riesige Differenz.
Kern der Sache ist doch: Alle Einkommen sind angestiegen. Damit ist die Situation in der Schweiz besser als irgendwo sonst auf der Welt. Die Frage ist: Geht es um eine Neid-Diskussion oder darum, den allgemeinen Nutzen für die Menschen zu erhöhen? Wenn man darauf schaut, wer noch mehr bekommt, obwohl es einem selbst auch besser geht, kann man selbstverständlich immer den Eindruck haben, dass es einem schlechter geht. Doch der Allgemeinheit geht es besser. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in der Schweiz eine der geringsten weltweit.
Aber dennoch öffnet sich diese Schere ständig weiter.
Nur minim. Wir müssen aber den Mittelstand stärken, in dem wir ihn von Abgaben entlasten.
Die Arbeitnehmenden sollen länger arbeiten, fordert der Arbeitgeberverband. Ihre Partei unterstützt diese Forderungen. Anerkennen Sie nicht, unter welchem Leistungsdruck die Gesellschaft aktuell schon steht?
Das Lebensmodell sollte jede und jeder selbst frei wählen können. Aber für die Gesellschaft ist es nicht unproblematisch, dass Leute, die während ihrem Studium von der Allgemeinheit profitieren konnten, später nur Teilzeit arbeiten. Es braucht keine Gesetze, aber man sollte Anreize schaffen, damit die Menschen wieder mehr arbeiten wollen und wir dadurch das inländische Arbeitskräftepotential stärker nutzen können. Die Glättung der Progression bei den Steuern oder die Individualbesteuerung wären wichtige Anreize, letzteres speziell für Frauen. Wir sollten aber auch die Hürden abbauen für Menschen, die das Rentenalter erreichen, aber noch arbeiten wollen.
Apropos: Am 14. Juni ist Frauenstreik. Wie setzt sich die FDP für die Gleichstellung ein?
Die Individualbesteuerung ist ein wichtiges Gleichstellungsprojekt. Und: Unsere Partei unterscheidet nicht zwischen Frau und Mann. Wir fördern und unterstützen die Frauen natürlich dort, wo wir den Eindruck haben, dass es notwendig ist. Allerdings stelle ich auch fest: Unsere FDP-Frauen kämpfen für ihre Anliegen. Und das ist auch gut so.
Nun zur Mobilität: Der mittlere Besetzungsgrad eines Autos ist 1,5 Personen, das System scheint also ineffizient. Weshalb unterstützen Sie den Autobahnausbau auf sechs Spuren?
Es geht ja nicht darum, überall sechsspurig zu bauen, sondern nur dort, wo wir Kapazitätsengpässe haben. Vergangenes Jahr kam es in der Schweiz zu 39'863 Stau-Stunden. Das führt zu Umweltbelastung und hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Um diese Zeit im Stau zu verringern, braucht es den Ausbau. Übrigens bin ich genauso für einen Bahnausbau. Aber auch dort liegt die durchschnittliche Auslastung bei rund 20 Prozent. Das zeigt, dass die Mobilität stark auf Wellen ausgelegt ist. Allerdings werden diese Wellen immer breiter.
Man kann motorisierten Individualverkehr mit Autos nicht gleich gewichten wie den öffentlichen Verkehr mit dem Zug.
Ich bin nicht nur ein Autofahrer, sondern ich fahre auch viel Zug. Viele Menschen sind genauso multimodal unterwegs. Ich verstehe darum nicht, weshalb man das eine gegen das andere ausspielen will. Wir brauchen ein funktionierendes Gesamtsystem. Alles andere ist reine Ideologie.
Steht der Autobahnausbau nicht im Widerspruch zum Ziel, CO₂-neutral zu werden. Schliesslich verursacht mobilisierter Individualverkehr fast 30 Prozent aller Treibhausgasemissionen der EU, der öffentliche Verkehr mit Eisenbahnen nur 0,1 Prozent.
Im Strassenverkehr findet eine Dekarbonisierung statt, auch dank Elektrofahrzeugen. Diese Entwicklung geht schnell voran, benötigt aber noch etwas Zeit. Spätestens dann fällt das CO₂-Argument weg.
Bei der Herstellung von Elektroautos entstehen auch CO₂-Emissionen.
Genau wie auch beim Bau von Eisenbahnen. Mobilität braucht Ressourcen, der Mensch braucht Ressourcen. Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, weshalb der Autobahnausbau wichtig ist für die Umwelt: Die Nationalstrasse nimmt lediglich 2.5 Prozent der gesamten Strassenfläche ein, sie wickelt aber 43 Prozent des ganzen Verkehrs ab. Bei Stau auf der Autobahn weichen die Verkehrsteilnehmende auf das untergeordnete Strassennetz aus und fahren durch Dörfer. Damit werden jegliche umwelt-, siedlungs- und Lärm- und Verkehrssicherheitspolitischen Ziele torpediert.
Eine Gruppe sieht das ganz anders als Sie: die Klimaaktivistinnen und -aktivisten. Diese lassen ihren Frust über die Umweltpolitik aus, indem sie sich auf Strassen an den Boden kleben. Und Sie forderten kürzlich in einem Tweet, dass die Schweiz gegen die Klimakleber ermitteln soll. Sehen Sie das grosse Ganze nicht?
Ich sehe vor allem, dass wir in einem Rechtsstaat leben. Und zu einem Rechtsstaat gehört, dass alle, die kriminelle Taten begehen, auch von der Strafverfolgungsbehörde und der Justiz entsprechend verfolgt werden. Das ist das normale System. Ich sehe nicht, warum jemand, der sich auf die Strasse klebt, vom Strafrecht ausgenommen werden sollte.
Würden Sie einen Unterschied machen zwischen jemandem, der sich auf die Autobahn klebt, und jemandem, der sich an einen Privatjet klebt?
Das kann nur die Justiz beurteilen, ob es da einen Unterschied braucht.
Sie sind Anwalt. Was sagen Sie?
Ich vermute, dass beide den Tatbestand der Nötigung erfüllt haben. Ob noch andere Delikte zur Anwendung kommen beim Luftverkehr, kann ich nicht beurteilen. Dafür bin ich zu wenig Strafrechtsspezialist.
Wenn wir schon bei grünen Themen sind: Sie setzen sich für ein Atom-Comeback ein. Wie ist das vereinbar, da die FDP gleichzeitig die Ja-Parole zum Klimaschutzgesetz beschlossen hat?
Ich bin für den Ausbau erneuerbarer Energien. Möglichst viel Fotovoltaik, Wasser- und Windenergie, dort wo es sinnvoll ist. Aber ich stelle fest, dass wir wegen der aktuellen Gesetzgebungen und der komplizierten Verfahren bis 2035 nicht mal das AKW Beznau kompensieren können, welches dann vom Netz geht. Die Frage ist, wie wir diese Lücke decken.
Und da kommt für Sie Kernenergie ins Spiel?
Wir brauchen die Kernenergie als Ergänzung der Erneuerbaren. Am Schluss ist es wichtig, dass wir in diesem Land eine sichere, jederzeit verfügbare und bezahlbare Stromversorgung haben, mit welcher überdies die gesetzten Klimaziele erreicht werden. Die Energiestrategie sieht übrigens trotz der Fehlannahme, dass wir nicht mehr Strom benötigen würden, Gaskraftwerke vor. Darauf sollten wir aber nicht setzen, wenn wir uns nicht von Autokraten abhängig machen sowie die Klimaziele erreichen wollen.
Was denken Sie, würden Ihre Enkel oder Urenkel sagen, dass Sie sich so für ein Atom-Comeback eingesetzt haben?
Sie würden mit mir sicher gnädiger umgehen, als wenn ich dafür verantwortlich wäre, dass wir kein oder zu wenig Strom haben und es vermehrt zu Blackouts kommt.
Sicher nicht bbeim Strom. Das ist lächerlich…