Eine schmale Landstrasse, die inmitten von Kuhweiden von Dorf zu Dorf führt: So kennt man das Zürcher Oberland.
«Es ist schön hier bei den Kuh-Füdlis», sagt Anna Rosenwasser, als wir auf das Fischenthal zufahren. «Irgendwo im Nirgendwo.» In der wählerstärksten SVP-Gemeinde im Kanton Zürich, wo mehr als die Hälfte der Einwohner für die Volkspartei stimmt.
Rosenwasser selbst kandidiert als Nationalrätin für die SP und lebt in Zürich. Das Fischenthal im entfernten Oberland ist für sie eine fremde Welt. Sie ist sich gewohnt, in ihrer Bubble zu leben. Diese hat sie sich selbst auf Instagram geschaffen, wo ihr über 30’000 Menschen folgen.
So wendet sich Anna Rosenwasser an ihre Follower, wenn sie etwas zu sagen hat. Und das hat sie oft. Sie ist Aktivistin, Autorin, freie Journalistin und gibt Workshops und Vorträge zu queeren Themen.
Von Beruf: «Lesbisch.» So stand es lange auf ihrer Website, während ihrer Zeit als Co-Geschäftsführerin der Lesbenorganisation Schweiz. Nun möchte sie Nationalrätin werden.
Über 5500 Likes verzeichnet der Instagram-Post, mit dem sie ihre Kandidatur bekannt gab. Ihre Büsis sind ihre Fans und ihre Wähler. Doch für den Sprung in den Nationalrat konnte sie nicht auf die Stimmen der alten Katzen verzichten, die ausserhalb ihrer Bubble sind.
Das hat sie schon 2018 gemerkt, als sie auf dem zweiten JUSO-Listenplatz für den Nationalrat kandidierte und mit etwas über 8000 Stimmen die Wahl weit verpasste. Dieses Mal ist sie auf dem Listenplatz 20 der SP Zürich. Keine besonders tolle Platzierung. Doch laut Rosenwasser habe sie sich bewusst für das letzte Drittel der Liste entschieden.
Auf der Fahrt ins Zürcher Oberland erzählt sie von ihrem Leben, bevor sie die berühmteste queere Aktivistin des Landes wurde. Von ihrem Heimatdorf Flurlingen, das in der Nähe von Schaffhausen liegt. Von ihrer ruhigen Kindheit. Und sie erzählt von ihren Teenager-Jahren, in denen sie alles andere als eine rebellierende Jungsozialistin war. Obwohl sie an einem 1. Mai geboren und politisch links sei, habe sie relativ spät begonnen, sich «mit der Arbeitergeschichte zu befassen». Auch von einer hauptberuflichen Lesbe war sie damals weit entfernt.
«Bis Anfang 20 war ich mit einem Mann zusammen, mit dem ich eine Familie geplant hatte», sagt Rosenwasser. Eigentlich sei sie kurz davor gewesen, sich ebenfalls in einem Dorf abseits der Stadt niederzulassen – wie es das Fischenthal ist. Bis sie realisiert habe, dass sie etwas anderes im Leben brauche und wolle.
In der wählerstärksten SVP-Gemeinde angekommen, scheint das 2598-Seelen grosse Dorf wie ausgestorben. Nach knapp zehn Minuten zu Fuss trifft Rosenwasser auf einen 90-jährigen Rentner, der jedoch nicht über Politik diskutieren möchte. Er ist mehr daran interessiert, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Und Rosenwasser hört ihm zu. Dabei kommt heraus, dass er früher mehrere Unternehmen besessen und gutes Geld verdient habe. Deshalb wählte er stets die FDP, weil es doch «eine Partei für die Unternehmer sei».
Als der Rentner weitergeht, sagt Rosenwasser, dass sie für eine höhere Besteuerung von Unternehmen und Superreichen ist. Wie viel, weiss sie nicht: «Ich kann noch nicht mit Zahlen antworten. Doch als gewählte Nationalrätin würde ich die ganze Vorbereitungsarbeit bei solchen Vorlagen sehr gerne auf mich nehmen.»
Die LGBTQ-Aktivistin sagt unverblümt, wenn sie in einem Thema noch keine Expertise hat. Das disqualifiziere sie aber nicht als Kandidatin, findet sie. «Mein Unwissen zum jetzigen Zeitpunkt ist weniger verheerend als das Unwissen des Ständerats, wenn dieser über unsere Zukunft entscheidet.» Rosenwasser spielt auf die Debatte zum Diskriminierungsschutz für Lesben und Schwule an, bei der sie sich eingesetzt hatte, dass auch Transmenschen besser geschützt werden. «Da habe ich realisiert, dass Politiker bei LGBTQ-Themen keine Ahnung haben von dem, was sie entscheiden.»
Auf diese Art will Anna Rosenwasser nicht politisieren. Sie möchte verstehen, weshalb die Menschen eine andere Meinung haben. Deshalb wolle sie den Fischenthalerinnen und Fischenthaler vor allem zuhören, als sie umzustimmen, erklärt sie. «Unverständnis führt in eine Ohnmacht. Und dieses Gefühl von Ohnmacht ist der Grund, weshalb ich Politik mache. Damit ich mich nie mehr so fühle.»
Bei der nächsten Begegnung im Fischenthal trifft sie auf eine junge Mutter und ihr Baby. Die Frau sagt, sie wähle nur die SVP. Rosenwasser versucht, sie mit dem Kita-Thema abzuholen. Vom bezahlbaren Zugang zu familienergänzender Kinderbetreuung würde «sie als Mutter persönlich profitieren und auch die Gesellschaft», argumentiert die Nationalrätin. Die Frau ist da anderer Meinung, sie möchte nicht noch mehr Steuern bezahlen. Rosenwasser pflichtet ihr bei und sagt, sie zahle auch nicht gerne Steuern. Doch es sei gut, wenn man «die Kosten gemeinschaftlich aufteile, anstatt die Last den Eltern allein zu überlassen». Das sage sie als eine Frau, die selbst keine Kinder wolle.
Sie fragt die Mutter, was das letzte Thema war, das sie beschäftigte. «Das Klimaschutzgesetz. Man kann doch nicht alles verbieten und genügend Strom haben wir auch nicht», antwortet diese. Rosenwasser entgegnet, das Gesetz beinhalte kein einziges Verbot, sondern es sei um Innovation gegangen. Aber der Klimawandel lasse sich zum Teil nur mit Verboten bekämpfen. «So, ich muss los, das Mittagessen machen», sagt die Frau und geht weiter.
Da auf den Strassen praktisch nichts los ist, machen wir uns auf in Richtung Dorfbeiz. Auf dem Weg dorthin sticht Rosenwasser eine Herde Schafe ins Auge. «Mehr Schäfchen als Einwohner im Fischenthal. Und das schwarze Schäfchen steht inmitten der weissen Schäfchen: Alle haben es gut miteinander.» Sie nutzt jede Gelegenheit, um auf ihr Kernthema anzuspielen: die Inklusion von Minderheiten in der Gesellschaft. Egal, ob es um die LGBTQ-Community geht, um Migration oder um Religionen. Es sind Themen, die sie auch persönlich betreffen.
Auf der Speisekarte des Restaurants hat es zwei vegetarische Menüs. Vegane Mahlzeiten sucht Rosenwasser vergebens. Sie bestellt einen mit Käse überbackenen Tomaten-Toast. «Der Käse wird mich ein paar Wählerstimmen kosten», sagt sie halb ironisch.
Unterhalten will sich Rosenwasser über die Asylpolitik, die ihr am Herz liegt. Sie ärgert sich über das Wort Wirtschaftsflüchtlinge. «Wem es so schlecht geht, dass man flüchten muss, macht das aus einer Not», sagt sie. Sie sei dagegen, Menschen ein Leben in der Schweiz zu verweigern. «Niemand verlässt sein Zuhause, weil er den grossen Chlütter sieht.» Wichtiger sei es für sie, diese Menschen in die Gesellschaft und in den Arbeitsmarkt zu integrieren. So fordert sie eine Arbeitserlaubnis und Ausbildungen für Migranten, deren Status noch abgeklärt werde. «Wenn sie einer Beschäftigung nachgehen können, werden sie auch nicht in die Kriminalität gedrängt wie momentan.»
Die Aktivistin ist gegen Ausweisungen. Sie sagt sogar: «Niemand soll ausgeschafft werden, egal, was diese Person getan hat. Dafür haben wir unser Rechtssystem. Ich finde nicht, dass sich jemand die Existenz in diesem Land verdienen muss.»
Bevor Anna Rosenwasser wieder zurück nach Zürich geht, zurück in ihre Bubble, macht sie noch einen Abstecher an den Stammtisch der Dorfbeiz. Es sitzen drei ältere, weisse Männer in der Runde. Alle trinken Bier. Rosenwasser stellt sich als Nationalratskandidatin für die SP Zürich vor, die gerne mit ihnen darüber sprechen möchte, welche Partei sie wählen. Die Antwort: SVP.
Einer der Männer, nennen wir ihn Beat, greift sofort ein Thema auf: «Ihr Politiker müsst schauen, dass in der Landwirtschaft nicht so gutschiert wird.» Damit meine er, dass Beiträge (Subventionen) gekürzt werden sollten, wenn Landwirte keine Ordnung auf ihren Bauernhöfen hielten und diese verkümmern liessen. Anna Rosenwasser stimmt Beat zu. Würde er die SP-Politiker nun wählen, wenn sie sich genau dafür einsetzt? «Ja, dann schon», sagt Beat. Er und Rosenwasser müssen beide etwas lachen.
Beat startet eine neue Diskussion. Er will darüber sprechen, dass man «alle Probleme lösen könne, wenn die Schweiz nur so viele Einwohner zulasse, wie das Land zum Leben hergebe». Die SVP sei die einzige Partei, die sich darum kümmere, dass die «Kultur nicht verloren» gehe. Rosenwasser gibt sich verwirrt und fragt ihn, wie er das genau meine. Dann spricht Beat von «ausländischen Bauarbeitern, welche die Toitois nicht benutzen können, weil es nicht Teil ihrer Kultur sei, so aufs WC zu gehen und Papier zu benützen».
Man sieht Rosenwasser an, dass sie die Argumentation unsinnig findet, aber sie antwortet trotzdem: «Gut, dann reden wir miteinander, wie man in der Schweiz eine Toilette benützt. Deshalb werfen wir die Menschen doch nicht aus unserem Land raus». Beat entgegnet, das nütze nichts. Sein Kollege, nennen wir ihn Fredi, stimmt ihm bei.
Fredi ist ein noch treuerer SVP-Wähler als sein Kollege. Noch nie im Leben habe er eine andere Partei gewählt. Wir fragen ihn, was die SP und Anna Rosenwasser tun müssen, damit er sie wählen würde. Er antwortet: «Die SP? Die sollte man alle aufhängen. Aber blitzartig.» Stille. Nur im Hintergrund ist das Radio zu hören, das den Hitsong «Murder on the dancefloor» spielt.
Doch dann sagt Beat, dass Fredi das so nicht sagen könne. Auch Rosenwasser bleibt ruhig und entgegnet, dass man sicher Gemeinsamkeiten habe. Fredi will davon nichts wissen: «Die SP, die hasse ich.» Wir verlassen kurz darauf die Dorfbeiz und auch das Fischenthal.
Anna Rosenwasser wird die SVP-Hochburg, das Fischenthal, nicht für sich gewinnen, es ist zu sehr ausserhalb ihrer Bubble. Der Tag fühlt sich für sie dennoch wie ein Sieg an: «Mir ging es nicht darum, andere umzustimmen, sondern darum, sie zu verstehen. Und ich durfte einiges mitnehmen aus diesen Stunden hier.» Ob das neu gewonnene Verständnis reicht, um auch die älteren Katzen im Kanton Zürich für sich zu gewinnen, bleibt offen.
Aufwachen, Leute.
Krankenkassen, Miete, Gesundheitssysten, Arbeitsplatz etc. Kümmert euch um diese Baustellen, danke.