Schweiz
Kommentar

Profit vor Gesundheit: Die Schweiz wird zum Corona-Nest

A paramedic wearing protective gear as a precaution against the spread of the coronavirus COVID-19 speaks to patient suspected of having contracted the Covid-19 virus before he will be taken to a hosp ...
Eine Sanitäterin mit Schutzanzug in Genf: Solche Bilder könnten zur Regel werden.Bild: KEYSTONE
Kommentar

Profit vor Gesundheit: Die Schweiz wird definitiv zum Seuchen-Nest

Der Bundesrat verschärft die Massnahmen gegen das Coronavirus, schreckt aber vor einer «italienischen Lösung» zurück. Denn der Wirtschaftsmotor muss weiterlaufen.
13.03.2020, 20:1314.03.2020, 01:22
Mehr «Schweiz»

Sebastian Kurz weiss, wo der Feind sitzt. Im Süden – und im Westen. «Es wird Kontrollen an der Schweizer Grenze geben, so wie es mit Italien praktiziert wird», teilte Österreichs jungkonservativer Bundeskanzler auf Twitter mit. Auch der Flugverkehr mit Spanien und Frankreich sei eingestellt, «da sich das Coronavirus dort sehr schnell verbreitet».

Dank Sebastian Kurz ist es amtlich: Die Schweiz ist ein Seuchen-Nest in Europa. Das lässt sich statistisch belegen. Die Infektionskurve verläuft exakt wie in Italien, einfach mit etwa zehn Tagen Verzögerung. Wo das hinführen kann, wissen wir. Das öffentliche Leben in Italien ist zum Erliegen gekommen. In Österreich wird es ab Montag «auf ein Minimum» reduziert.

Deutschland und Frankreich, unsere anderen grossen Nachbarländer, versuchen hingegen weiterhin, sich durchzuwursteln. Und der Bundesrat? Er hat am Freitag entschieden, den deutsch-französischen Weg zu gehen: Schulen werden geschlossen, Veranstaltungen mit über 100 Personen verboten, die Grenzen schärfer kontrolliert.

Epidemiologen raufen sich die Haare

Vor einer «italienischen Lösung» schreckt die Landesregierung aber weiter zurück. An der denkwürdigen Medienkonferenz appellierten ihre vier Mitglieder einmal mehr an die Eigenverantwortung: Hände waschen, Social Distancing praktizieren, auf die Älteren Rücksicht nehmen. Diese sollen den öV nicht mehr benutzen – aber verkehren sollen Züge, Trams und Busse weiterhin.

Man könnte diese Massnahmen als pragmatische Lösung loben, als eine Art «goldenen Mittelweg», wie er typisch ist für die Eidgenossenschaft. Epidemiologen und andere Experten aber dürften sich die Haare gerauft haben. Sie fordern schon lange radikale Massnahmen wie in China oder Italien. Nur so könne eine fatale Corona-Eskalation verhindert werden.

Davor schreckt der Bundesrat zurück. Als er vor zwei Wochen ein Verbot für Veranstaltungen mit mehr als 1000 Personen erliess, wurde er noch reiherum gelobt. Der «Blick»-Chefredaktor bezeichnete die Schweiz als «Vorbild für Europa». Nun sind wir drauf und dran, zum Schlusslicht zu werden. Zu einem abschreckenden Beispiel sogar.

Wirtschaftliche Tragbarkeit

Ich fand diese Massnahmen nie sonderlich überzeugend und teilweise widersprüchlich. Fussballspiele sollte es keine mehr geben, der öffentliche Verkehr aber weiterhin laufen? Ein Verdacht drängte sich von Anfang an auf: Der Bundesrat hat sich bei seinen Massnahmen weniger am Gemeinwohl orientiert als an der wirtschaftlichen Tragbarkeit.

Coronavirus: Was du wissen musst

1 / 15
Coronavirus: Was du wissen musst
Das neue Coronavirus Sars-CoV-2 geht um die Welt. Was du darüber wissen musst.
quelle: ap / zoltan balogh
Auf Facebook teilenAuf X teilen

«Wir sind daran, auf unüberlegte Weise eine Wirtschaftskrise loszutreten» sagte der Waadtländer Volkswirtschaftsdirektor Philippe Leuba (FDP) letzte Woche auf Radio RTS. Diese Furcht scheint viele umzutreiben, entsprechend zaghaft wurden und werden Massnahmen erlassen. Man denke nur an den Kantönligeist bei den Veranstaltungen.

Die glücklichen Generationen

Profit kommt vor Gesundheit – es ist ein böser Vorwurf, aber er lässt sich nicht von der Hand weisen. Der Wirtschaftsmotor muss weiterlaufen, koste es, was es wolle. Und das im wahrsten Sinn des Wortes. Nicht weniger als zehn Milliarden Franken stellt der Bundesrat für wirtschaftliche Soforthilfe zur Verfügung, in erster Linie Lohnfortzahlungen.

Die «Salamitaktik» trägt auch nicht dazu bei, der Bevölkerung den Ernst der Lage zu vermitteln. Eine Kollegin verwies an der Medienkonferenz des Bundesrats auf die nonchalante Haltung vieler junger Menschen. Eine junge Frau, die in der Pharmabranche (!) arbeitet, schrieb mir, das Coronavirus sei «nicht schlimm», die Medien würden «Panik» verbreiten.

Oh doch, es ist schlimm!

Diese Ignoranz ist Ausdruck einer fatalen Haltung der glücklichen Nachweltkriegs-Generationen, die in der westlichen Hemisphäre nie mit einer Krise konfrontiert waren, die buchstäblich ans Lebendige geht. Die Asiaten haben mit Pandemien mehr Erfahrung und rigoros gehandelt – nicht nur das totalitäre China, auch demokratische Länder wie Südkorea und Taiwan.

Wir beantworten eure Fragen zum Coronavirus

Video: watson/Lino Haltinner

Wir aber versuchen weiterhin, mit Gesundbeten und Händewaschen das Unvermeidliche hinauszuzögern. Es ist nicht nur zu befürchten, sondern praktisch sicher, dass spätestens in einer Woche auch bei uns Italien ist, mit einem öffentlichen Leben, das weitgehend zum Erliegen kommt, und mit Spitälern, die am Anschlag operieren.

SVP will Ausländer drin lassen

Denn die Corona-Krise zeigt auch, wie abhängig wir gerade im medizinischen Bereich vom Ausland sind, sowohl bei Material und Medikamenten als auch beim Personal. Grenzgänger, die im Gesundheits- und Pflegebereich arbeiten, sollen weiterhin einreisen dürfen. Die SVP fordert den Bundesrat in einer Mitteilung auf, dafür zu sorgen, «dass sie hier bleiben können».

Man stelle sich vor: Die SVP verlangt tatsächlich, Ausländer NICHT rauszulassen. Das sollte man sich merken, auch im Hinblick auf die Abstimmung am 17. Mai. Wobei die ohnehin verschoben wird.

DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Die Verordnung des Bundesrats zum Coronavirus
1 / 8
Die erste Verordnung des Bundesrats zum Coronavirus
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Hygienevorschriften für Infizierte von Coronavirus
Video: srf
Das könnte dich auch noch interessieren:
Hast du technische Probleme?
Wir sind nur eine E-Mail entfernt. Schreib uns dein Problem einfach auf support@watson.ch und wir melden uns schnellstmöglich bei dir.
282 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
surfi
13.03.2020 20:31registriert Februar 2016
Schon mal überlegt, was es heisst den öV abzustellen? Arbeitet denn niemand mehr. Ihr lieben Kritiker. Wer soll dann unsere Waren produzieren, liefern verkaufen? Von was wollte den Leben? Die Lieferdienste würden ja auch nicht arbeiten! Wenn endlich jeder die Anordnungen befolgen würde, würde sich niemand anstecken.
Vor 2 Wochen wurden die Massnahmen als zu einschneidend kritisiert.
WIR, die Bevölkerung müssen dafür sorgen, dass sich das Virus nicht weiter verbreitet.
1753189
Melden
Zum Kommentar
avatar
sowhat
14.03.2020 07:21registriert Dezember 2014
Was ist denn bei euch auf der Redaktion los?
Erst ist der Tenor die Massnahmen seien übertrieben. Jetzt ist der Tenor es reicht nicht.
Erst Maurice, dann Peter B.

Habt ihr einen Panikmacher im Büro?
1697
Melden
Zum Kommentar
avatar
nick11
13.03.2020 22:47registriert Oktober 2015
Wer sich nicht 24h mit den korrekten Zahlen und Fakten beschäftigt, kann nicht ansatzweise beurteilen.
Es gibt ein paar mehr Dinge zu bedenken, wenn sie einfach alles dicht machen hat dies diverse komplexe Effekte. Z.b. Fällt ein Grossteil der Gesundheitsversorgung einfach zusammen. Auch die Grundversorgung wäre gefährdet. Die Wirtschaft muss mit bedacht und schrittweise heruntergefahren werden, solange dies irgendwie möglich ist. Hier das Gleichgewicht zu halten ist ein Seiltanz den wir erst bewerten können, wenn das ganze durch ist.
Von einem Chefredaktor hätte ich etwas mehr erwartet!
18124
Melden
Zum Kommentar
282
«Ich schäme mich für diesen Fehler» – Ameti äussert sich erstmals nach Jesus-Schüssen
Sanija Ameti schoss im September auf ein Bild von Jesus und Maria, was einen medialen Shitstorm auslöste. Nun äussert sich Ameti erstmals in einem Interview, wie es ihr seither ergangen ist.

«Ich schäme und entschuldige mich dafür. Es war keine Provokation, es war ein Fehler», sagt Sanija Ameti, Co-Präsidentin der Operation Libero und Grünliberale-Politikerin, im Interview mit der «Schweiz am Wochenende».

Zur Story