Jugendliche können es den Erwachsenen nie Recht machen. Entweder sind sie zu frech oder zu brav, zu rebellisch oder zu angepasst. Warum sollte das mit den sozialen Medien anders sein?
Philippe Wampfler: Die heutigen Jugendlichen sind mit den sozialen Medien aufgewachsen und so stark mit ihnen verbandelt, dass sie keine Alternativen mehr kennen. Meine Generation – ich bin in den 80er Jahren jung gewesen – kannte noch Bücher und Tageszeitungen. Das trifft für die heutige Generation nicht mehr zu. Sie müssen deshalb bei den sozialen Medien auf Gedeih und Verderb herausfinden: Was funktioniert, und was nicht.
Ist die Kombination Jugend/soziale Medien also mehr als eine Jugendrevolte, wie es sie immer wieder gegeben hat?
Ich mag es nicht, wenn man vorschnell von Revolutionen spricht. Vieles, das heute im Zusammenhang mit Facebook, Twitter & Co. als revolutionär angepriesen wird, erweist sich bei näherem Zusehen als altbekannt. Es sieht vielleicht nur ein bisschen anders aus.
Sind Internet und digitales Zeitalter nicht eine Zäsur, die grundsätzliche Veränderungen mit sich bringt?
Die Euphorie, dass Facebook und Twitter die Politik verändern – beispielsweise Ursache des arabischen Frühlings waren –, ist bereits wieder am Abklingen. Soziale Medien sind Teile in einem Puzzle, mehr nicht.
Dank den sozialen Medien und den Smartphones kommunizieren Jugendliche anders.
So gesehen hat sich tatsächlich in kurzer Zeit ein grosser Wandel abgespielt. Aber gerade weil es so schnell gegangen ist, ist es zum heutigen Zeitpunkt auch sehr schwer abzuschätzen, was davon bleiben wird. Weder die Jugendlichen wissen es, noch die Industrie, die mit den sozialen Medien Geld verdienen will, aber den Dreh noch nicht gefunden hat, wie dies geschehen soll.
Wer ist eigentlich von dieser Entwicklung mehr überfordert, die Jungen oder die Alten?
Die Alten. Die Jungen finden sich digital zurecht, weil sie kaum andere Möglichkeiten haben, sich sozial zu vernetzen. Das Vorurteil, sie seien als «Digital Natives» technisch kompetent aber in Bezug auf Belange wie die Privatsphäre naiv, teile ich nicht. Überforderte Erwachsene tendieren dazu, beides zu überschätzen, die Techno-Kompetenz und die Naivität.
Werden wir konkret: Stimmt es, dass die «Selfie-Kultur» die Jungen in unausstehliche Narzissten verwandelt?
Nein, aber narzisstisch veranlagte Menschen fühlen sich von der Selfie-Kultur angesprochen und bestärkt. Sie werden dazu aufgefordert, ihren Exhibitionismus auszuleben. Wer jedoch keine Neigung zum Narzissmus hat, der wird nicht plötzlich anfangen, Selfies in der Welt herumzuschicken.
Was ist mit dem Gruppenzwang? Wer nicht mitmacht, ist ein Weichei?
Das trifft zu, aber es bleiben genügend Freiräume für diejenigen, die diesem Gruppendruck nicht nachgeben wollen. Gerade das Internet macht es möglich, dass diese Jugendliche Gleichgesinnte im Netz finden und so dem Druck einer Schulklasse entfliehen können.
Und was ist mit Sexting? Dem Druck auf junge Mädchen, Nacktbilder von sich ins Netz zu stellen?
Mädchen im Alter von 12 bis 13 sind tatsächlich gefährdet, eine Medien-Sucht aus sozialen Gründen zu entwickeln und damit anfällig auf Sexting zu werden. Das hängt damit zusammen, dass sie Anschluss an Gruppen finden wollen.
Wie weit ist das Suchtverhalten in der Schweiz verbreitet?
Man kann davon ausgehen, dass rund 20 Prozent der Jugendlichen ihr Smartphone nie ausschalten, dass es rund um die Uhr läuft. Sie lassen sich mitten in der Nacht wecken, um einen Anruf oder eine SMS nicht zu verpassen.
Gehen Jugendliche noch an einen Ferienort, wo es kein Wi-Fi gibt?
Das ist für viele tatsächlich undenkbar geworden.
Hat die MIT-Professorin Sherry Turkle somit Recht, wenn Sie von einem pathologischen Umgang mit dem Smartphone spricht?
Nein, das ist Spekulation. Diese angebliche Sucht klingt auch bei Jugendlichen rasch ab. Viele Jugendliche, die mit 13 ohne Smartphone angeblich nicht mehr leben konnten, gehen, wenn sie gegen 20 zugehen, auf Distanz und ärgern sich über diejenigen, die ständig am Smartphone kleben.
Verharmlosen Sie jetzt nicht zu stark? Turkle schildert, dass viele Jugendliche nur noch simsen und nicht einmal mehr am Smartphone miteinander sprechen, weil ihnen das zu intim geworden ist.
Turkle schliesst dies aus den Interviews, die sie mit Jugendlichen geführt hat. Empirisch lassen sich ihre Thesen jedoch bisher nicht belegen.
Der Vorwurf, Smartphones und soziale Medien hätten die Jugendlichen oberflächlicher gemacht, wird auf breiter Front erhoben. Wie berechtigt ist er?
Die Jugend ist heute weder oberflächlicher noch narzisstischer als vor 10 und vor 20 Jahren.
Aber sie ist viel stärker kontrolliert. Dank dem Smartphone können Eltern ihre Kinder viel besser überwachen als früher. Was richten diese «Helikopter»-Eltern für Schäden an?
Viele Eltern sagen tatsächlich: Du darfst ein iPhone haben oder ein Facebook-Konto eröffnen, wenn ich deine Freundin sein darf.
Werden die Eltern zum «Big Brother» ihrer Kinder?
Wie viel Kontrolle Eltern über ihre Kinder haben sollen, ist eine klassische Erziehungsfrage. Die sozialen Medien verstärken dieses Problem, weil sie mehr und bessere Kontrollmöglichkeiten anbieten. Nur sollte man die Jugendlichen nicht unterschätzen: Sie sind sehr kreativ, wenn es darum geht, diese Kontrollen zu überlisten.
Porno ist ein weiteres Thema, das im Zusammenhang mit Jugend und sozialen Medien immer wieder aufkommt. Wie schlimm ist es wirklich? Es gibt eine These, die zunächst paradox klingen mag: Junge Männer werden wegen Porno immer schüchterner. Sie wissen einerseits, dass sie dank Porno ihre Bedürfnisse virtuell sofort befriedigen können. Gerade deswegen verlieren sie andererseits die Fähigkeit zu sozialen Kontakten. Sie wissen nicht mehr, wie man Small Talk betreibt oder flirtet und haben keine Frustrationstoleranz mehr. Will heissen: Sie vertragen es nicht mehr, abgewiesen zu werden und lassen sich gar nicht mehr auf einen Dialog ein.
Sind junge Männer die Verlierer der sozialen Medien?
Dem stimme ich zu, vor allem wenn es sich um bildungsferne junge Männer handelt.
Wie weit verändern die sozialen Medien unser Gehirn? Es gibt ja auch die These, wonach jemand, der sich nur noch im Internet informiert, unfähig wird, eine Zeitung oder gar ein Buch zu lesen.
Das menschliche Gehirn ist plastisch und kann sich veränderten Umständen anpassen. Das gilt natürlich speziell für das jugendliche Gehirn. Es ist jedoch begrüssenswert, wenn sich das Gehirn an die neue mediale Welt anpasst.
Ist es nicht bedenklich, wenn die Fähigkeit verloren geht, längere, zusammenhängende Texte zu lesen und zu verstehen?
Wie wichtig wird das in Zukunft noch sein? Wer aufgewachsen ist wie wir, wird sagen: Sehr wichtig. Aber möglicherweise entstehen in Zukunft andere, gleichwertige Formen, die wir heute noch nicht beschreiben können. Es gibt beispielsweise bereits TV-Serien, die den klassischen Roman ersetzen können. Denken Sie an «House of Cards» oder die «Sopranos». Die Struktur dieser Serien ist oft komplexer als ein herkömmlicher Roman.
Wo sehen Sie die grössten Gefahren der sozialen Medien?
Dass es einfach geworden ist, Bedürfnisse sofort zu befriedigen und dass die Menschen daher keine Geduld mehr haben. Das sieht man beim Gamen, beim Porno und bei der Auseinandersetzung mit Kultur. Nur sollte man das nicht dramatisieren. Der Anteil der Bevölkerung, der lange Bücher gelesen hat, war immer schon klein.
Neu ist hingegen, dass die Menschen immer mehr Zeit in einer virtuellen Welt verbringen, neuerdings sogar in 3D. Was heisst das?
Wo liegt die Grenze zwischen realer und virtueller Welt? Menschen haben schon immer gleichzeitig in einer physischen und einer symbolischen Welt gelebt, denken Sie an Träume und Phantasien. Die Tendenz läuft in die Richtung, dass es in der realen Welt nur das geben wird, was auch auf einer virtuellen Karte existiert. Diese Verknüpfung wird immer stärker, und irgendwann werden wir nicht mehr unterscheiden können, was real und was virtuell ist. Ist das ein Computerspiel oder befinden wir uns in der Wirklichkeit?
Die «Matrix» wird also wahr?
Warum nicht? Wenn der physische Anteil einer Beziehung kleiner und der symbolische grösser wird – warum soll das schlimm sein? Die Tatsache allein, dass die physische Welt schrumpft, ist für mich kein Problem – zumindest nicht, solange jeder Mensch selbst darüber entscheiden kann.
Sie sind Gymi-Lehrer. Auch in der Schule zeichnet sich ab, dass Star-Dozenten via Internet den Durchschnittslehrer ersetzen. Erschreckt Sie das?
Die Schulen haben die Entwicklung verschlafen und sind zu lange davon ausgegangen, dass Lehrer vor Klassen treten und ihr Ding durchziehen. Eine Spezialisierung ist auch beim Lehrerberuf sinnvoll.
Inwiefern?
Die besten sollten sich darauf konzentrieren, Vorträge zu halten und die anderen sollten die Schüler coachen. Diese Aufteilung wird kommen, ebenso die Tatsache, dass ein Teil des Lehrerberufes automatisiert werden wird. Heute schon lernt ein Teil der Schüler gelegentlich auf YouTube, vor allem in den naturwissenschaftlichen Fächern.