Wer an drei Olympischen Spielen in Folge Gold gewonnen hat, 2014 sogar doppelt, muss mit öffentlichen Erwartungen umgehen können: Viele hoffen auf einen weiteren Coup von Dario Cologna in Peking, bevor er seine Karriere im Frühjahr beendet. Am Freitag im 15-km-Lauf. Oder in der Staffel. Oder über 50 km. Auch wenn die Vorzeichen und die bisherige Form nicht für ihn sprechen. Sein bestes Saisonresultat ist ein 15. Platz.
Doch was ist in Colognas Langlaufalter überhaupt noch möglich? Um diese Frage – zumindest aus rein statistischer Sicht – zu beantworten, haben wir gegen 100'000 Weltcup-Resultate von Hunderten Athletinnen und Athleten seit 1982 sowie alle Olympia-Ergebnisse seit den Winterspielen 1928 in Chamonix durchforstet.
Eines kann man Cologna zu Gute halten: Während die grössten Gegner seiner Generation fast geschlossen ihre Karrieren beendet haben, wie Petter Northug oder Martin Johnsrud Sundby, läuft er weiterhin in die Weltcuppunkte – in seiner Generation fast alleine auf weiter Flur. Nur einer mit seinem Jahrgang 1986 hält noch mit: der Franzose Maurice Manificat, der in dieser Saison zwei Top-10-Resultate herausgefahren hat.
Wie folgende Grafik zeigt, laufen noch weitere Gleichaltrige, 35-Jährige im Weltcup mit - der Isländer Snorri Eythor Einarsson zum Beispiel - das Wasser reichen kann Cologna aber nur Manificat. Ein 37-Jähriger ist ebenfalls im Weltcup dabei: Steve Hiestad aus Zürich, der für Brasilien läuft, es aber nicht an die Olympischen Spiele geschafft hat. Und Jean Marc Gaillard, der Franzose, der seine Karriere als 41-Jähriger in den hinteren Rängen ausklingen lässt. Sicher ist: In der imaginären Senioren-Weltcupklasse belegt der Münstertaler Cologna mindestens Platz zwei.
Dass es mit bald 36 Jahren – Cologna feiert am 11. März Geburtstag – aber auch an Olympia noch zu Ehren reichen kann, haben andere Langläufer in der Geschichte der Winterspiele bewiesen. Gold hingegen konnte kein Ü35-Langläufer gewinnen, wie nachfolgende Übersicht zeigt.
Tatsächlich scheint ausgerechnet das 35. Jahr ein verflixtes zu sein: Just ab diesem Zeitpunkt wird es harzig mit dem Medaillengewinn. Ältester Goldgewinner war der estnische Klassischspezialist Andrus Veerpalu, der in Turin 2006 mit 34 Jahren seinen Titel über 15 km verteidigte. Bekannter ist ein anderer Langlauf-Senior, dem die Zeit nichts anzuhaben schien: Maurilio De Zolt. Ohnehin war der Italiener eine Ausnahmeerscheinung. Erst mit 29 Jahren stiess der Feuerwehrmann zum italienischen Team, lief mit 32 erstmals im Weltcup. Er biss sich dann dank seiner Skating-Fähigkeiten ganz vorne fest. Mit 37 Jahren in Calgary 1988 und mit 41 Jahren in Albertville 1992 gewann er Olympia-Silber im 50-km-Lauf. Und mit 43 Jahren in Lillehammer 1994 holte mit der Staffel Gold – was damals den Norwegern die Olympiaparty kurz vermieste.
Nur einer konnte De Zolt in olympischen Dingen das Wasser reichen, was das Alter betrifft: Der Russe Michail Botwinow, der über 50 km in Turin für Österreich an den Start ging – und mit 38 Jahren Bronze holte. Doch es gibt ein ungemütliches Detail: Mehrmals wurde Botwinow des Dopingmissbrauchs verdächtigt. Und auch Maurilio De Zolt wurde immer wieder in Verbindung mit dem berüchtigten Professore Francesco Conconi genannt, der damals viele italienische Sportler medizinisch «begleitete».
Zurück zur Loipe: Bei den Frauen zeigt sich eine ähnliche olympische «Medaillen-Kurve». Dort hingegen gibt es eine über 35-jährige Olympiasiegerin: Marit Björgen gewann 2018 in Pyeongchang Gold über 30 km, mit fast 38 Jahren. Andere späte Edelmetallgewinnerinnen waren die Norwegerin Hilde Pedersen (Bronze mit 41 Jahren in Turin 2006) und die Finnin Marja-Lisa Kirvesniemi (Bronze mit 38 in Lillehammer 1994).
Auffallend ist, dass fast alle diese Erfolge in Distanzrennen zustande kamen. Das 50-km-Rennen (vom Sonntag in einer Woche) ist auch für Cologna jener Bewerb, bei dem er an einem perfekten Tag mithalten kann: eine Disziplin, bei der oft nicht jugendliche Spritzigkeit, sondern Zähheit und Erfahrung zählen. Errechnet man den Durchschnitt der Formkurven aller langjährigen Weltcup-Athleten, entsteht ein erstaunliches Bild. Während Sprinter mit 26 ihren Peak erreichen, ist dieser in den Distanzrennen (Männer 50 km, Frauen 30 km) erst bei 33 Jahren zu finden.
Gemäss Patrik Noack, Chief Medical Officer bei Swiss Olympic, hat die Abnahme der Leistungsfähigkeit mehrere Gründe, zwei davon sind besonders einschneidend schon vor dem 30. Lebensjahr. Die maximal mögliche Sauerstoffversorgung der Muskulatur nimmt ab, was zu einer Leistungseinbusse führt. Bereits mit 20 Jahren beginnt zudem der Testosteronspiegel zu sinken, was sich auf den Muskelaufbau und die Kraft auswirkt. Diese Kraftabnahme wird für die Sprinter naturgemäss schon früher zum Problem als für Distanzläufer. Umso höher ist die Leistung des Italieners Federico Pellegrino einzuschätzen, der am Dienstag mit 31 Jahren noch Sprint-Silbermedaillengewinner wurde.
Bleibt eine andere, sportartübergreifende Frage: Wie ist der Sieg von Beat Feuz (34) und der zweite Platz von Johan Clarey (41) in der Abfahrt der Männer zu erklären – wo doch eigentlich im alpinen Sport die Kraft eine wichtige Rolle spielt? Die Erfahrung, das Gefühl und die Anzahl Fahrten, die man in seiner Karriere zurückgelegt habe, mache in sehr technischen Sportarten wie dem alpinen Skisport eben viel aus, sagt Noack.
Die Statistik kann eine weitere Frage beantworten: Profitieren ältere Athletinnen und Athleten, wie oft gehört, an Olympischen Spielen von ihrer Erfahrung? Der Vergleich des Durchschnittsalters der drei Erstplatzierten in Weltcup-Rennen mit jenem von Olympia-Medaillengewinnern zeigt einen Effekt, wenn auch nur einen kleinen. In olympischen 50-km- und 15-km-Rennen sind die drei Erstplatzierten im Schnitt fast 29 Jahre alt – und damit eineinhalb Jahre älter als jene auf Weltcup-Podien. Das ist vielleicht die kleine Hoffnung für Dario Cologna. Und für die Langlaufschweiz.
Der Blick in die Resultate-Datenbank der FIS zeigt etwas weiteres: Die grossen Langläufer der vergangenen 40 Jahre lassen sich einteilen in jene, die früh und erfolgreich ihre Karriere beendeten. Und jene, die ihrer Leidenschaft auch weit über den Zenit frönten.
Der Schwede Gunde Svan zum Beispiel, der fünffache Gesamtweltcupsieger und grosse Dominator in den 1980er-Jahren, hörte bereits mit 29 Jahren auf – nachdem er 1991 in Val di Fiemme vier WM-Medaillen gewonnen hatte. Auf der anderen Seite wollte es der Tscheche Lukas Bauer alles auskosten, seine Karriere dauerte 20 Jahre lang, hatte seinen Peak aber nach zehn Jahren erreicht, wie untenstehende Grafik zeigt. Mit einem Klick auf die Namen können einzelne Leistungskurven betrachtet werden. (aargauerzeitung.ch)