Nun zählen nicht mehr Siege und Niederlagen. Von einer Sekunde auf die andere ist alles anders. Es geht nicht mehr um die Frage, wie gut der König in Form ist. Warum Matthias Glarner (31) als König diese Saison noch kein Fest gewonnen hat. Nun geht es darum, wann Matthias Glarner wieder ganz gesund sein wird. Der Unfall ereignete sich am Dienstagvormittag kurz nach 08.00 Uhr. Um 14.00 Uhr des gleichen Tages folgte die offizielle Meldung:
Was nicht in der Meldung steht: Nach Aussagen von Augenzeugen stand der König offenbar für ein cooles Foto auf das Dach der Gondel und hatte sich möglicherweise nicht genügend gesichert. Der anwesende Fotograf sei völlig fertig mit den Nerven. Manager Beni Knecht bestätigt lediglich, sein Klient sei bei einem Fototermin mit der «Schweizer Illustrierten» aus der Gondelbahn in Brünig-Hasliberg abgestürzt.
Die Saison des Königs ist zu Ende. Wenigstens hat er Glück im Unglück gehabt. Die Folgen des Sturzes aus zwölf Metern Höhe hätten viel schlimmer sein können.
Hinter dieser offiziellen Meldung über den tragischen Augenblick im Leben eines Spitzensportlers verbirgt sich eine Geschichte, die viel über eine neue Sport-, Schwinger- und Medienwelt sagt.
Schwingen ist populär wie nie. Die besten «Bösen» verdienen sechsstellige Summen mit persönlicher Werbung, die seit 2010 erlaubt ist. Die Werbeindustrie investiert jährlich etwas mehr als 1,5 Millionen Franken in die Sägemehl-Titanen.
Der Sauerstoff des Werbebusiness ist Medienpräsenz. Vierfarbige Abbildungen in der auflagestarken «Schweizer Illustrierten» sind überaus geschäftsfördernd. Wenn spezielle Wünsche für spezielle Bilder kommen, sagt keiner ab. Um es drastisch zu formulieren: Der König ist ein Opfer des Kommerzes geworden. Chefredaktor Stefan Regez bestätigt, dass der Unfall «nach einem Fotoshooting» passiert sei. Er drückt sein Bedauern aus und ist zugleich erleichtert, dass die Folgen nicht noch schlimmer sind.
Der Unfall bringt ihn in eine delikate Lage: Soll er nun in seinem Medium darüber berichten oder nicht? Es gibt ja nur zwei Varianten: Vornehm verschweigen oder ausführlich in Wort und Bild rapportieren.
Es mag Zeiten gegeben haben, da hätte es sich ein Chefredaktor erlauben können, in einem solchen Fall zu schweigen. Aber diese gute alte Zeit ist inzwischen längst durch den «Medien-Kapitalismus» beendet worden.
Es muss ja nicht gleich sein wie in Billy Wilders bitterbösem Klassiker «Reporter des Satans». In dem preisgekrönten Filmdrama macht ein skrupelloser Reporter, gespielt von Kirk Douglas, das Unglück eines in einer Höhle eingeschlossenen Mannes zu einem Medienspektakel.
Ob wir es nun zynisch finden oder nicht – es ist nun mal, wie es ist: Der Absturz des Königs der Schwinger von einer Gondelbahn, dieses Drama vor der Kulisse der hehren Bergwelt um einen der populärsten Einzelsportler des Landes ist ganz einfach eine zu gute und zu wichtige Story. Zumal Schicksalsgeschichten die DNA der erfolgreichen «Schweizer Illustrierten» sind, einem Produkt aus dem Hause Ringier. Und so sagt Stefan Regez: «Ja, wir bringen die Geschichte. Das wird von uns erwartet, nachdem ja bekannt ist, dass der Unfall nach einem Shooting mit uns passiert ist.» Aber leichten Herzens hat er diesen Entscheid offenbar nicht gefällt. Er sagt: «Wir sind uns sehr wohl bewusst, wie heikel diese Angelegenheit ist.» Bilder vom Sturz gebe es keine.
Der ganze Fall wird neben den offiziellen Untersuchungsbehörden auch Versicherungsspezialisten und womöglich Juristen beschäftigen. Der Zuger Rechtsanwalt Reto Steinmann ist spezialisiert auf Arbeits- und Strafrecht und war früher Strafrichter. Er kennt also die gängige Praxis. Er sagt: «Auch ohne genaue Kenntnis der Sachlage lässt sich sagen, dass es sich hier um einen heiklen Fall handelt. Ein Sturz aus einer Gondel ist, wenn alle Vorschriften eingehalten worden sind, recht ungewöhnlich.»
Matthias Glarner ist beim Betreiber der Bergbahn angestellt, von deren Gondel er in die Tiefe stürzte. Reto Steinmann erklärt, bei einem Arbeitsunfall werde offiziell untersucht, ob Sicherheitsvorschriften verletzt worden seien, womöglich fahrlässig. Und dann werde geprüft, ob jemand zur Rechenschaft gezogen werden könne (sog. Regressforderungen.) Es sei nicht einmal hundertprozentig sicher, ob die «Schweizer Illustrierte» juristisch aus dem Schneider sei. Stefan Regez sagt wohl nicht zufälligerweise, dass sich der Unfall nach dem Foto-Shooting ereignet habe.