Nach seinem Sabbatjahr beerbt Thomas Tuchel als Nachfolger von Jürgen Klopp eine Dortmunder Klub-Legende. Nur logisch, dass der 41-jährige Trainer kein Problem damit hat, auch andere Denkmäler vom Sockel zu reissen.
Das müssen Leute wie Toni Pace auf die harte Tour erfahren. Der italienische Koch mit Hang zur Dramatik beliefert die Mannschaft seit 15 Jahren täglich mit Pasta und anderen Leckereien. Weil seine Saucen für Tuchels Geschmack aber zu fettig sind, braucht er per sofort einen neuen Auftraggeber.
«O sole mio», jammert der geschasste Hoflieferant nun in die TV-Kameras. «Wie kann mein Essen nicht das richtige sein? Mit meinen Saucen sind die Borussen seit 2002 dreimal Meister geworden, standen in drei Pokalfinals, holten einen Pokalsieg, zwei Supercups und kamen ins Champions League Finale!» Besonders traurig ist der Pasta-Toni, weil er aus dem Internet erfahren hat, dass er den Schöpflöffel abgeben muss.
Ganz so schnell geht es Goalie Roman Weidenfeller nicht an den Kragen. Wie der geschasste Koch durfte der bald 35-jährige Weltmeister mit Borussia Dortmund seit 2002 eine Menge Erfolge feiern. In 425 Pflichtspielen hat sich der Schlussmann mit Paraden und Emotionen die «echte Liebe» der Fans gesichert. So eine Ikone wird – ausser bei Real Madrid – nicht eben mal so einfach abserviert.
Im Trainingslager in Bad Ragaz trägt Weidenfeller deshalb noch immer die Nummer 1. Herausforderer Roman Bürki muss nach seiner Ankunft aus Freiburg vorläufig mit der 38 vorliebnehmen. Auch auf dem neuen Mannschaftsfoto thront der alte Roman noch in der Mitte zwischen Bürki und Nachwuchsmann Hendrik Bomann – der Platz, der in der Regel dem Stammkeeper gebührt.
Zudem hat Thomas Tuchel in der Öffentlichkeit auch verbal noch kein Bekenntnis zu seinem Wunschtransfer Bürki abgegeben: «Ihm wurde nichts versprochen. Es ist noch nicht der Zeitpunkt, in der Torwartfrage etwas zu entscheiden. Derzeit ist alles vorstellbar.»
Muss sich Bürki also ernsthaft Sorgen machen, nach der starken Saison mit Absteiger Freiburg – und als zweitbester Goalie der Kicker-Rangliste – in Dortmund auf der Bank zu versauern? Hat der unter Klopp phasenweise zum Ersatz degradierte Weidenfeller plötzlich wieder Oberwasser? Eher nicht. Auch Borussia Dortmund hat nicht die Ressourcen, um umgerechnet rund 4 Millionen Franken für einen Ersatzgoalie zu verpulvern.
Viel eher handelt es sich um einen Psychotrick von Thomas Tuchel, mit dem er seine Keeper zu Höchstleistungen anstacheln will. Solche Strategien hat sich der Motivationskünstler während seiner Auszeit vom Fussballbusiness an Seminaren für Führungskräfte aus der Wirtschaft vergolden lassen. Auch in der Schweiz war er ein gefragter Mann.
Dass er sein Geld wohl wert gewesen ist, zeigen Bürki und Weidenfeller gestern in Bad Ragaz. Vor mehreren hundert Fans pushen sich die beiden Kontrahenten im Goalietraining mit Teddy de Beer auf dem Sportplatz Ri-Au gegenseitig bis ans Limit.
Dabei beweist Weidenfeller immerhin, dass die Sache für Roman Bürki auch nach dem überraschenden Abgang von Mitch Langerak zu Stuttgart kein Selbstläufer wird. Der Schweizer muss zwar keine Konkurrenz durch die ehemalige Nummer 2 mehr fürchten, doch der alternde König hat noch eine Menge Mumm in den Knochen.
Explosiv hechtet Weidenfeller dutzendfach nach jedem Ball, den de Beer auf seinen Kasten donnert. Frühpension sieht anders aus. Und sobald die Reihe an Bürki ist, mischt sich Weidenfeller ständig mit Kommentaren von der Seite ein.
Die Goalies steigern sich in einen wahren Flugrausch. Platzwart Ivan Bonderer, den die «Bild» wegen des perfekten Rasens kürzlich zum «Herr der Halme» kürte, beobachtet die Szene mit Sorge: «Die machen mir die Linien kaputt.»
Den Fans gefällt es. Immer wieder spendieren sie Szenenapplaus. Bürki lächelt, winkt ihnen zu. Doch wie cool nimmt es der 24-jährige Schweizer wirklich, dass Weidenfeller den Kampf um die Nummer 1 so verbissen führt?
An seiner Pressekonferenz in Bad Ragaz schmiert Bürki dem Namensvetter eine Menge Honig um den Mund: «Roman ist eigentlich schon fast eine Legende beim BVB, daher habe ich sehr grossen Respekt. Er hat Titel gewonnen, die ich wahrscheinlich nie gewinnen werde.»
Dennoch kündigt der Schweizer an, dass er nicht als Ersatzmann oder Lehrling nach Dortmund gekommen sei: «Auf dem Platz sind wir alle gleich und müssen unsere Leistung bringen. Ich wusste, was auf mich zukommt, als ich den Vertrag unterschrieben habe. Ich versuche mein Bestes zu geben und am Schluss entscheidet der Trainer.»
Dass diese Entscheidung am Ende wohl eben doch auf Bürki fallen dürfte, hat auch mit einer Eigenheit in Tuchels Fussballphilosophie zu tun. Er zählt den Torwart, vor allem bei eigenem Ballbesitz, mit zu den Feldspielern. Während die Aussenverteidiger im Aufbau nach vorne rücken, weichen die Innenverteidiger zur Seite aus. Der Goalie hat das Loch in der Mitte zu stopfen und spielt quasi als Innenverteidiger. Eine Aufgabe, die viel fussballerische Technik erfordert. Deshalb absolvieren die Goalies in Bad Ragaz auch jede zweite Übung mit Ball am Fuss. Kurze Pässe, lange Pässe, Doppelpässe – und hier hat Roman Bürki gegenüber Weidenfeller die Nase deutlich vorn.
Auch die Testspiele in der Schweiz deuten darauf hin, dass sich der Deutsche unter Tuchel wohl endgültig vom Status der Nummer 1 verabschieden muss. Er spielte zuletzt gegen Luzern, Bürki wird morgen den Kracher gegen Juventus Turin in St.Gallen bestreiten.
Nur fünf Tage später trifft Dortmund in der 3. Qualifikationsrunde zur Europa League in Österreich auf den Wolfsburger AC. Gut möglich, dass dann Roman Weidenfeller wieder im Kasten steht. Insider vermuten, dass Tuchel ihn nach der anstehenden Entmachtung zum Trost als Pokal- und Europa-League-Goalie einsetzen wird.
Am 15. August aber, wenn es gegen Borussia Mönchengladbach wieder um die Bundesliga-Wurst geht, dürfte Roman Bürki zum Handkuss kommen. Dann kann er im Duell zweier Mannschaften auf Augenhöhe vielleicht sogar erstmals ernsthaft Yann Sommer als Nati-Goalie Nummer 1 herausfordern.
schade musste mitch gehen! er hätte es am meisten verdient die nr 1 zu sein!