In Afghanistan, dem verwundeten Land, das vier Jahrzehnte lang nur blutige Konflikte kannte, ist der Krieg vorbei – Frieden herrscht trotzdem nicht. Das Leben im bergigen, von Nahrungsmittelknappheit und Naturkatastrophen gebeutelten Binnenstaat scheint schwieriger denn je. Insbesondere für Frauen, deren Grundrechte seit dem Einmarsch der radikalislamischen Taliban am 15. August 2021 sukzessive eingeschränkt werden.
Das Land war schon vor der Machtübernahme der Islamisten wahrlich keine Bastion der Freiheit. Und doch: Es gab sie, diese hart erkämpften Freiräume, in denen Menschen sein durften, wer sie sein wollten. Einen solchen Freiraum fand Madina Azizi im Fussball. Die 25-Jährige war Teil des afghanischen Frauennationalteams.
Ihren Anfang nahm Azizis Fussballkarriere auf staubigen Strassen im Iran, dem Land, in dem sie mit ihrer afghanischen Familie einen Teil ihrer Kindheit verbrachte. Sie kickte mit ihren Geschwistern und Nachbarskindern – damals konnte Azizi noch nicht ahnen, dass ihr diese unschuldige Leidenschaft für das schöne Spiel eines Tages zum Verhängnis werden würde.
Als die Familie nach Afghanistan zurückkehrte, wurde ein Vertreter des Sportministeriums auf die Ballkünste des Mädchens aufmerksam.
Azizi wurde 2013 also Teil des im Jahr 2007 gegründeten afghanischen Fussball-Nationalteams. Sie merkte schnell, dass im Fussballverband ihres Landes vieles falsch lief. Der Verbandspräsident Keramuddin Karim und andere Funktionäre vergriffen sich an den jungen Spielerinnen.
Die junge Frau wollte nicht schweigen zu den Vorfällen – und wurde daraufhin aus dem Nationalteam verbannt. Aufzugeben war für Azizi und ihre Mitspielerinnen aber keine Option. Sie sammelten Beweise gegen den Verbandschef und erreichten etwas, das in Afghanistan – dem Land, in dem «den Frauen in solchen Situationen ohnehin nicht geglaubt wird», wie Azizi sagt – Seltenheitswert hat: Von der FIFA wurde Karim lebenslänglich gesperrt und mit einer Geldstrafe belegt, in Afghanistan wurde gegen den Funktionär gar ein Haftbefehl ausgestellt. Dass er jemals eine Haftstrafe absitzen werde, glaubt Azizi indes nicht. Dafür sei der Mann «zu reich und zu mächtig», sagt sie.
Nach dem Ausschluss aus dem Nationalteam engagierte sich Azizi im Mädchenfussball. Ihr Ziel: «Sportkultur in ihrem Land etablieren, damit auch Mädchen Sport treiben können.»
Das Adjektiv «frech» hat auf Dari, ein persischer Dialekt, der in Afghanistan gesprochen wird, eine leicht andere Bedeutung als auf Deutsch. Wer frech ist, ist mutig und unermüdlich, sagt, was er denkt. Madina Azizi war schon immer ein «freches Kind», wie sie selbst sagt.
Und genau diese «Frechheit» ist einer der Gründe, weshalb die afghanische Flagge über dem Küchentisch in ihrer Wohnung irgendwo in einer Ostschweizer Gemeinde etwas vom wenigen ist, das der 25-Jährigen von ihrer Heimat geblieben ist. Hätte sie damals geschwiegen, als ihre Teamkolleginnen vergewaltigt wurden, hätte sie das Land und ihre Familie vielleicht nicht verlassen müssen.
Azizis Stimme überschlägt sich, wenn sie über die Ungerechtigkeiten erzählt, mit denen die afghanische Bevölkerung tagtäglich konfrontiert ist. Zum Beispiel ihr Bruder: Er verbrachte sechs Monate in einem Taliban-Gefängnis und laut Azizi nur deshalb, weil er den Ordnungshütern mit seiner westlichen Kleidung «verdächtig» erschien. Als er zurückkam, war er am ganzen Körper gezeichnet von der Zeit im Gefängnis – seither verliert er kein Wort mehr über die Taliban.
Es sind Erlebnisse wie diese, welche die junge Frau zu der Überzeugung gebracht haben, dass es unter den Taliban für ihr Land keine Zukunft gibt – dass andere Länder mit den neuen Machthabern im Dialog stehen, macht Azizi wütend.
«Wäre ich noch in Afghanistan», sagt sie, «würde ich jede Minute 60 Mal sterben.» Aber Madina Azizi lebt, und solange das der Fall ist, will sie ihr Leben so gestalten, wie sie es für richtig hält – selbst dann, wenn sie sich damit in Gefahr bringt.
Der Kampf, den Azizi und andere Frauen in Afghanistan für mehr Gleichberechtigung geführt haben, war einer gegen Windmühlen. Woher nahm die junge Frau die Energie, ihn trotzdem zu führen?
Selbst für die furchtlose Madina Azizi wurde das Leben in Afghanistan irgendwann zu gefährlich. Sie erhielt noch vor dem Einmarsch der Taliban in Kabul ein Visum, um in die Schweiz einzureisen. Hier angekommen, lernte die umtriebige Frau zum ersten Mal in aller Deutlichkeit, was Langeweile und Einsamkeit bedeuten.
Diese schwierigen Zeiten sind zum Glück vorbei. Heute macht Azizi eine Detailhandelslehre beim Coop. Die studierte Agronomin spricht fliessend Deutsch – dass in der Schweiz Dialekt gesprochen, aber Hochdeutsch geschrieben wird, bereitet ihr jedoch Mühe. Manchmal, so erzählt sie, schreibe sie auf Schweizerdeutsch, ohne es zu merken.
Aber die 25-Jährige hat sich bereits an vieles gewöhnt, das ihr zuerst fremd erschienen war. Zum Beispiel, dass man nicht über eine Wiese laufen darf, wenn das Gras hoch ist. Oder dass den wachsamen Augen der Nachbarn in der Schweiz nichts entgeht.
Auf die Frage, was man am Asylwesen in der Schweiz verbessern könnte, fällt der wortgewandten Frau einiges ein:
Azizi fühlt sich sicher in ihrer neuen Welt. Aber der Ideologie, der sie mit der Flucht in die Schweiz entkommen zu sein glaubte, begegnet sie auch hier, tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Wie es sein kann, dass sie auch hier noch auf Menschen trifft, welche die neuen Machtverhältnisse in Afghanistan gutheissen, kann sie nicht verstehen.
Für Azizi hat es sich also noch lange nicht ausgekämpft. Mit anderen Afghaninnen setzt sie sich dafür ein, dass Mitglieder der Taliban, die sich in Europa aufhalten, wieder nach Afghanistan zurückgeschickt werden. Azizi macht deutlich, dass es ihr dabei nicht um Religionen oder Volkszugehörigkeiten, sondern einzig und allein um die Ideologie geht.
Der Einzug der Taliban in Kabul war zugleich das Ende des Frauenfussballs in Afghanistan. Einige Frauen, die zum Zeitpunkt der Machtübernahme im Nationalteam gespielt hatten, erhielten ein Visum für Australien. Nun kämpfen sie dafür, dass die FIFA das afghanische Exil-Nationalteam als solches anerkennt. Der Dachverband des Fussballs hüllt sich jedoch in Schweigen. Auch wenn die Nationalmannschaft anerkannt würde, mitspielen möchte Azizi nicht mehr.
Azizi hat ihre Fussballschuhe in der Schweiz an den Nagel gehängt. Nachdem sie sich das dritte Mal das Kreuzband gerissen hatte, beschloss sie, dass in ihrem Leben jetzt andere Dinge Priorität haben, ihre Lehre zum Beispiel. Es wirkt fast so, als würde Azizi erst dann wieder einen Fussballplatz betreten, wenn auch ihre Landsfrauen diese Freiheit zurückerhalten. Aber bis dahin ist es wohl noch ein weiter Weg.
Und trotzdem: Wenn sie von Fussball und den Erinnerungen erzählt, die sie damit verbindet, wird einem einmal mehr bewusst, welch grosse Bedeutung dieser Sport für so manches Leben hat.
Zusammen mit anderen Frauen hat Madina unmittelbar nach der Machtübernahme der Taliban versucht, Fussballerinnen aus Afghanistan zu evakuieren. In rund drei Dutzend Fällen ist ihnen das gelungen.
Madina Azizi hat das Träumen nicht verlernt.
Aber sie kann die Realität auch nicht einfach ignorieren.
Sie spricht mir so was aus dem Herzen. Was für eine mutige und starke Frau.
Die Frau ist ein Vorbild. Ich wünsche ihr viel Erfolg bei der Lehre und dass sie ihre beruflichen und persönlichen Ziele erreicht.
Ich wünsche ihr, dass sie miterleben darf, wie sich die Situationen in ihrem Heimatland irgendwann doch zum positiven wenden.
Vielleicht findet sie auch wieder den Zugang zu ihrer Leidenschaft, dem Fussball. Vielleicht als Trainerin oder wichtig Funktionärin in einem Verein oder Verband?
Viel Kraft und Glück!