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Afghanistan

2 Jahre nach Machtübernahme der Taliban in Afghanistan: So lebt das Volk

Tod in Zeitlupe – 2 Jahre Leben unter dem Taliban-Regime

Die Bevölkerung Afghanistans hungert. Familien verkaufen aus Verzweiflung ihre Kinder, um zu überleben. Einer ganzen Generation von Frauen und Mädchen ist die Zukunft geraubt worden, immer mehr begehen Suizid. Ein Einblick in das Leben unter dem Taliban-Regime.
14.08.2023, 14:15
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Zwanzig Jahre nach ihrem Sturz übernahmen die Taliban am 15. August 2021 erneut die Kontrolle über Kabul und führten eines der repressivsten Regimes weltweit ein.

Bereits während ihrer ersten Herrschaft zwischen 1997 und 2001 regierten die Taliban mit eiserner Hand. Öffentliche Hinrichtungen, Verstümmelungen, Auspeitschungen – die von den Taliban ausgelegte Scharia wurde mit drakonischen Strafen durchgesetzt. Menschenrechtsverletzungen standen an der Tagesordnung, insbesondere die Unterdrückung und Misshandlung von Frauen.

Seit der Machtübernahme haben die Taliban erneut eine strenge Auslegung des islamischen Rechts eingeführt, die stark an die Herrschaft Ende der 90er erinnert. Besonders Frauen leiden unter der zutiefst konservativen und patriarchalischen Gesellschaft.

So lebt das Volk unter der neuen Führung:

Armut, Arbeitslosigkeit und Kinderhandel

Die Bevölkerung in Afghanistan verarmt immer mehr und kann sich kaum noch etwas leisten. Fast alle Haushalte haben nicht ausreichend zu essen. 34 Millionen Menschen – 90 Prozent der Bevölkerung Afghanistans – leben heute laut UN unterhalb der Armutsgrenze. Die Unterernährung im Land hat stark zugenommen. Im Welthunger-Index 2022 belegt Afghanistan Platz 109 von 121 Ländern.

Jedes zweite Kind ist laut dem Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP) von akuter Mangelernährung bedroht. Täglich sterben durchschnittlich 170 Kinder infolge von Unterernährung, schätzen Hilfsorganisationen.

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Eine Frau mit ihrem Kind, das an Unterernährung und anderen Krankheiten leidet, Kandahar, Afghanistan, Mai 2023.Bild: keystone
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Hilfsbedürftige Familien erhalten Lebensmittelrationen in Kabul, Afghanistan, 3. August 2023.Bild: EPA

Zwei Drittel der Bevölkerung sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die Wirtschaft ist seit der Machtübernahme laut dem Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen UNDP um mehr als 20 Prozent geschrumpft. Ausländische Hilfsgelder sind eingefroren, das Land mit Sanktionen belegt worden.
Vor dem Sturz des Taliban-Regimes war Afghanistans Wirtschaft zu 75 Prozent von ausländischer Hilfe abhängig.

Kinder bezahlen den Preis

Schätzungsweise 700'000 Menschen haben ihre Arbeit verloren und sind in bittere Armut getrieben worden. Viele Familien stehen vor dem Nichts. Bei manchen afghanischen Paaren hat sich das finanzielle Korsett so stark zugeschnürt, dass sie keinen anderen Ausweg sehen, als ihre Kinder zu verkaufen: an kinderlose Paare, als Bräute oder Kämpfer für radikalislamische Gruppen – sowie an Menschenhändler. Andere verkaufen die Organe ihrer Kinder.

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Ein Mann sitzt neben seinen neugeborenen Drillingen. Er macht sich grosse Sorgen, ob er seine drei Söhne ernähren kann.Bild: EPA

Mit dem Geld können die Familien kurzfristig überleben und dafür sorgen, dass sie und ihre anderen Kinder nicht verhungern. Der Armut entkommen sie dadurch aber nicht im Entferntesten. 240'000 Afghani (2500 CHF) hat eine Familie für die Niere ihres Kindes bekommen, wie BBC berichtet. Viel weniger Geld erhielt eine Familie für den Verkauf eines 14-jährigen Mädchens zum Zweck einer Zwangsheirat: 100'000 Afghani (1100 CHF).

Vermummt, entmündigt und verbannt

Viel zu früh endet die Kindheit vieler afghanischer Mädchen. Schätzungen zufolge bietet jede zehnte Familie eines ihrer minderjährigen Kinder zur Heirat an, um zu überleben. Oftmals gebären die zwangsverheirateten Mädchen schon im frühen Alter. Ihnen wird so die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben genommen.

Ohnehin verweigern die Taliban den Mädchen und Frauen weitgehend das Recht auf Bildung. In den Augen der Taliban hat das weibliche Geschlecht in Bildungseinrichtungen und auf dem Arbeitsmarkt nichts zu suchen und wird systematisch aus dem öffentlichen Leben verbannt. Selbst von der Gesundheitsversorgung sind Frauen und Mädchen abgeschnitten.

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Frauen dürfen unter den Taliban nicht mehr studieren.Bild: keystone

Die Rechte der Frauen werden systematisch und in ungeheuerlichem Ausmass verletzt, heisst es im UN-Bericht. In den Worten einer Frau in Afghanistan:

«Wir sind am Leben, aber wir leben nicht.»

Afghanistan gehört zu den Ländern, in denen Polygamie legal ist. Männer dürfen bis zu vier Frauen haben. Die Frauen sollen den Männern streng untergeordnet sein. Mittlerweile sind die Frauen in Afghanistan unsichtbar geworden: Sie dürfen keine auffällige Kleidung mehr tragen, müssen sich vermummen. Selbst öffentliche Parks oder einen Coiffeur dürfen sie nicht mehr besuchen.

Zwischen September 2021 und Mai 2023 wurden mehr als 50 Dekrete für Frauen erlassen – um nur ein paar Beispiele zu nennen:

  • 23. August 2022: Frauen dürfen nicht mehr für die Regierung arbeiten.
  • 20. Dezember 2022: Frauen dürfen keine Universität mehr besuchen.
  • 22. Dezember 2022: Verbot aller Formen der Bildung für Mädchen nach der 6. Klasse.
  • 24. Dezember 2022: Frauen dürfen nicht mehr bei nationalen und internationalen Nichtregierungsorganisationen arbeiten.
A Taliban fighter stands guard as women wait to receive food rations distributed by a humanitarian aid group in Kabul, Afghanistan, Tuesday, May 23, 2023. (AP Photo/Ebrahim Noroozi)
Frauen warten in Kabul auf den Empfang von Lebensmittelrationen, Mai 2023.Bild: keystone
epa10507093 Afghan women sell used clothes on a road side on the eve of World Women Day, in Kandahar, Afghanistan, 07 March 2023. World Women Day is observed across the world on 08 March with this yea ...
Für die Frauen bedeutet das Leben in Afghanistan die Hölle.Bild: keystone

Die Taliban haben die Frauenrechte stark dezimiert und ein Umfeld geschaffen, in dem sich Mädchen und Frauen kaum noch trauen, das Haus zu verlassen. Afghanische Frauen beschreiben ihren Alltag im UN-Sonderbericht so:

«Tag für Tag kommen wir den Mauern näher, die uns erstickt und ohne Hoffnung zurücklassen.»

Jeder Aspekt des täglichen Lebens der Frauen ist unter dem Deckmantel der Religion eingeschränkt. Selbst Saudi-Arabien, das sich als Zentrum der islamischen Welt sieht, verurteilt vor allem das Hochschulverbot. Diese Verordnung verstosse gegen «alle religiösen Edikte».

Massengrab der Träume

Frauen fühlen sich gefangen in ihrem Geschlecht. Wer die Verordnungen missachtet, wird bedroht, verhaftet oder gefoltert. Es besteht ein Klima der Rechtslosigkeit und der Angst. Amnesty International zufolge sterben die Frauen einen «Tod in Zeitlupe». Die afghanische Menschenrechtsaktivistin Shaharzad Akbar beschreibt den Albtraum, dem die Frauen täglich ausgesetzt sind, so:

«Die Taliban haben Afghanistan in ein Massengrab für die Ambitionen und Träume der Frauen verwandelt.»

Aus Verzweiflung nehmen sich immer mehr Frauen das Leben. Der afghanischen Menschenrechtsaktivistin Fawzia Koofi zufolge begeht mindestens eine Frau pro Tag Suizid. Offizielle Zahlen gibt es nicht.

Die UN bezeichnen die Einschränkungen als «weltweit einzigartige Serie gnadenloser Dekrete», die einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit gleichkommen.

Geldquellen der Taliban

Eine Karriere ausserhalb des Hauses – danach sehnen sich afghanische Frauen gemäss einer UN-Umfrage am dringendsten. Die Einschränkungen der Frauen haben tiefgreifende Auswirkungen auf die Wirtschaft und das Leben der Menschen. Das Arbeitsverbot hat insbesondere im Gesundheitssystem eine grosse Personallücke hinterlassen. Aufgrund des Hebammenmangels – so schätzen die UN – stirbt alle zwei Stunden eine Frau während der Schwangerschaft oder bei der Geburt.

Die Taliban finanzieren sich durch den Drogenhandel, heisst es immer wieder. Das Land produziert Opium im grossen Stil. Doch der Anbau von Schlafmohn, aus dem Opium und Heroin gewonnen, wird, geht stets weiter zurück, wie Satellitenbilder zeigen. Dennoch hält das Land mit schätzungsweise 80 bis 90 Prozent der weltweiten Menge noch immer beinahe ein Opium-Monopol. Trotz offiziellem Verbot hängen tausende Arbeitsplätze hängen an dem Geschäft. Laut Schätzungen des UNO-Sicherheitsrates sollen die Taliban 2020 rund 460 Millionen Dollar durch den Opiumhandel verdient haben.

epa10530089 Taliban security members destroy an opium poppies field at Dand district of Kandahar, Afghanistan, 18 March 2023. The Taliban recently cleared 3 acres of land in Kandahar for poppy cultiva ...
Sicherheitskräfte der Taliban zerstören ein Schlafmohnfeld, Kandahar, März 2023.Bild: keystone

Weiter in die Kassen der Islamisten spülen Erpressungsgelder lokaler Unternehmen, Lösegeldforderungen nach Entführungen sowie Steuern. Die Einnahmen der Taliban belaufen sich laut Uno-Sicherheitsrats zwischen auf bis zu 1,5 Milliarden Dollar pro Jahr.

Doch es ist nicht die einzige Einnahmequelle. Zumindest was die Bodenschätze anbelangt, ist Afghanistan ein sehr reiches Land. Das Land verfügt über immense Rohstoff-Vorkommen: Eisenerz, Kupfer, Gold, Erdöl, Marmor und Edelsteine. Wie viel das Land durch den Bergbau erwirtschaftet, ist unklar. Die UN schätzen die erzielten Einnahmen auf 464 Millionen Dollar.

Kaum Fluchtmöglichkeiten

Bedroht sind nicht nur die Frauen. Jungs werden früh indoktriniert und vielfach zu Kämpfern ausgebildet. Männer sind zum Zweck der Einschüchterung willkürlichen Massenverhaftungen und Inhaftierungen ausgesetzt. Die Liste an Kriegsverbrechen gegen das humanitäre Völkerreicht reicht von Geiselnahmen und Folter bis hin zu aussergerichtlichen Hinrichtungen. Die Taliban haben Millionen Afghaninnen und Afghanen in die Flucht getrieben.

Doch die Ausreise sowohl auf dem Land- als auch auf dem Luftweg ist erheblich erschwert. Die Taliban haben wenig Interesse daran, dass Menschen Afghanistan verlassen, teilt das Staatssekretariat für Migration (SEM) auf Anfrage von watson mit.

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Die Taliban haben wenig Interesse daran, dass Menschen Afghanistan verlassen, so das SEM.Bild: keystone
Returning Afghans, who have recently arrived from Pakistan, wait during the registration process at the United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) registration center on the outskirts of Ka ...
Kinder in einem UNHCR-Lager in Kabul.Bild: AP/AP

Der grosse Teil der Personen, die im Moment nach Europa reisen und um Asyl nachsuchen, so das SEM, komme nicht direkt aus Afghanistan, sondern habe länger im Iran, in Pakistan oder in der Türkei gelebt. Diese Menschen hätten ihre Heimat schon vor Jahren verlassen und sich legal oder illegal in den teils angrenzenden Ländern aufgehalten. Richtung Westeuropa gelangen die Schutzsuchenden via Bulgarien, Griechenland oder den Balkan.

Die Schweiz hat seit der Machtübernahme 11'460 Asylgesuche von afghanischen Staatsangehörigen gewährt. Im Vordergrund stehe die Hilfe vor Ort, namentlich der Schutz und die Versorgung von intern Vertriebenen in Afghanistan sowie von afghanischen Staatsangehörigen, die in den Nachbarstaaten Schutz suchen.

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Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan
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Die Taliban übernehmen die Macht in Afghanistan
Am 15. August 2021 haben die Taliban ihr Ziel erreicht: Sie sind in der Hauptstadt Kabul einmarschiert und haben den Präsidentenpalast in ihrer Kontrolle.
quelle: keystone / zabi karimi
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«Vergesst Afghanistan nicht» – die Situation junger Frauen in Afghanistan
Video: watson
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105 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Viva Svizzera
14.08.2023 15:19registriert März 2023
Alle, die geglaubt haben, Taliban 2.0 werde weniger restriktiv sein als die Version 1.0 waren naiv. Es war ja nicht so, dass die Afghanen keine Wahl hatten. Sie hatten eine Armee, die bestens ausgerüstet und ausgebildet war, um genau diese Situation zu verhindern. Was ist passiert? Die Soldaten sind feige weggerannt oder haben mit den Taliban kollaboriert. Die Afghanen haben sich entschieden und wollten die Taliban. Die Konsequenzen sollen sie jetzt selber tragen oder aber die Taliban zum Teufel jagen.
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Macca_the_Alpacca
14.08.2023 15:07registriert Oktober 2021
Ich habe noch nie verstanden was diese Taliban Männer eigentlich für einen Vorteil sehen, Frauen derart zu unterdrücken. Sie haben eine regelgerechte Geschlechter Apartheit eingeführt.

Ich stelle mir Ehen unter diesen Bedingungen als absolut grauenhaft (auch für den Mann) vor. Warum können die es nicht ein bisschen lockerer nehmen? Zu Zweit hat man viel mehr Spass im Kono, a Jazzkonzert (das gab es früher in Kabul) usw. Aber nein man will als griesgrämig dreinblickender Bartli mit der Maschinen Pistole posieren. Naja wird dann vielleicht auch mal langweilig.
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1779prost
14.08.2023 19:49registriert Januar 2017
Und was soll der Westen jetzt tun? Die Taliban nochmal wegbomben? Nochmal tausende Soldaten opfern?Nochmal eine afghanische Armee aufbauen? Und wozu? Die Taliban kämen wieder zurück und das ganze würde wieder von vorne beginnen. Man kann niemandem helfen der sich nicht helfen lassen will. Afghanistan kann niemand mehr helfen.
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