Das Resultat sagt viel zu wenig über die Überlegenheit der Schweizer zu Land, zu Wasser und in der Luft aus. Es ist diese Überlegenheit, die einen viel höheren Sieg verhindert hat. Nach 13:26 Minuten ist mit dem 2:0 von Dean Kukan bereits alles entschieden. Im ersten Drittel (14:2 Torschüsse) findet das Spektakel fast nur vor dem gegnerischen Tor statt. Am Ende sind es 30:15 Abschlüsse.
Die Partie endet «nur» 3:0, weil die Schweizer immer wieder in die «Falle der 22 Beine» geraten. Wenn 22 Beine (10 Feldspieler plus ein Goalie) und 11 Stöcke in der gegnerischen Defensivzone tätig und rührig sind, wird es für den Puck schwierig, den Weg ins Tor zu finden. Immer wieder kommt ein fremder oder eigener Stock oder Schlittschuh, eine Hand oder ein Bein in die Schusslinie.
Die ganz grosse Qualität der Schweizer ist das schnelle Umschalten von Defensive auf Offensive. Der Konter aus der Tiefe des Raumes und generell das Tempospiel. Aber wie umschalten, wenn man fast ständig im Puckbesitz ist? Wie das Spiel beschleunigen, ausfächern und entfalten, wenn in der gegnerischen Zone die Räume eng sind?
Am Ende setzt sich Weltklasse durch: Captain Roman Josi kann sich zwei weitere Assist-Punkte gutschreiben lassen und ist jetzt mit 2 Toren und 6 Assists der beste Skorer des gesamten Turniers. Der Roger Federer des Hockeys eben.
Die Schweizer haben inzwischen turnierübergreifend 19 der letzten 20 WM-Gruppenspiele gewonnen. Sie sind ungekrönte «Vorrunden-Weltmeister». Alles läuft nach Plan.
Aber die wichtigste Frage kann nach wie vor nicht beantwortet werden: Ist Akira Schmid ein Viertelfinal-Goalie? Statistisch scheint sein erstes WM-Spiel, das er von Anfang an bestritten hat (sein WM-Debüt war das letzte Drittel gegen Österreich), ein einfaches zu sein. Er musste «nur» 15 Pucks stoppen. Aber wenig ist für den Goalie eher schwieriger als viel Arbeit. Er sagt:
Es gilt auch unterbeschäftigt im Tunnel zu bleiben. Also mit totaler Konzentration alle äusseren Einflüsse auszublenden. Das ist Akira Schmid gegen die Briten vorzüglich gelungen.
Die WM-Statistik des Langnauers in Prag ist überzeugend: Bisher 80 Minuten Einsatzzeit, 20 von 21 Pucks pariert (95,24 Prozent) und nur ein einziger Gegentreffer. Zum 5:5 gegen Österreich. Der war haltbar. Aber er hat dann mit einer brillanten Reflexparade gegen NHL-Stürmer Marco Rossi das 5:6 verhindert und ist so einer der Väter des Spektakel-Sieges gegen Österreich (6:5) geworden.
Statistisch ist Akira bei dieser WM besser als Leonardo Genoni, der in 125 Minuten (gegen Norwegen und Tschechien) 36 von 39 Schüssen (92,31 Prozent) plus vier von fünf Penaltys gegen die Tschechen stoppte. Aber Genoni hat gegen Tschechien bewiesen, dass er dank seiner Spielintelligenz (der Fähigkeit, das Spiel zu lesen) an einem guten Abend nach wie vor ein Weltklassegoalie sein kann.
Bis heute haben erst zwei Torhüter einen WM-Viertelfinal gewonnen: 2013 Martin Gerber gegen Tschechien und 2018 Leonardo Genoni gegen Finnland. Gerber geniesst inzwischen den Ruhestand daheim in Langnau und Genoni wird im August 37 Jahre alt.
Akira Schmid ist am 12. Mai erst 24 geworden und mit Abstand der talentierteste Torhüter der neuen Generation. Er hat sich im Frühjahr 2023 bereits in den Stanley-Cup-Playoffs bewährt und New Jersey den Triumph über die Rangers ermöglicht. Nun ist sein NHL-Einstiegsvertrag ausgelaufen. Weil die vergangene Saison in New Jersey eine durchzogene war, hat er noch keinen neuen Arbeitgeber. Aber er wird einen finden.
Schmid hat in Langnau nur ein einziges bedeutungsloses Spiel in der National League bestritten (und gegen Kloten gewonnen), ehe er im Sommer 2018 nach Nordamerika gezogen ist. Dort hat er sich aus drittklassigen Ligen bis in die NHL hochgearbeitet: In der Art, wie er mit Ruhe und Beharrlichkeit seinen Weg geht, mahnt er durchaus an Martin Gerber.
Vom Stil her ist Schmid der perfekte moderne Goalie: 193 Zentimeter gross, 93 Kilo schwer. Ein sanfter, schlaksiger Riese mit ruhiger, abgeklärter Spielweise, gutem Winkelspiel und teuflisch schnellen Reflexen. Ein Goalie, der alles hat, um die Schweiz sogar zu einem WM-Titel zu hexen. Den ersten «Viertelfinal-Test» hat er gegen Grossbritannien mit Auszeichnung bestanden: Er hat bei wenig Arbeit gegen «Operetten-Stürmer» die Konzentration nie verloren. Keiner der britischen Stürmer ist gut genug für eine Ausländer-Position in der National League.
Im Viertelfinal wird es darum gehen, mehr Abschlussversuche von viel besseren Stürmern zu parieren. Bei maximalem Erwartungsdruck. Wir haben die Stürmer und die Verteidiger für den Halbfinal. Die Differenz wird der Torhüter machen.
Es mag arrogant sein, bereits jetzt darüber zu spekulieren, wer im Viertelfinal im Tor stehen wird. Aber die Schweizer sind so gut, dass sie die Gruppenspiele auch für das Fine-Tuning nützen können. Zu diesem Fine-Tuning gehört, herauszufinden, ob Akira Schmid der neue Genoni, ob er ein neuer Viertelfinal-Goalie ist.
Patrick Fischer hat bisher in fünf von sechs WM-Viertelfinals auf Leonardo Genoni gesetzt: 2017 (1:3 Schweden), 2018 (3:2 Finnland), 2019 (2:3 n. V. Kanada), 2021 (2:3 n. P. Deutschland) und 2022 (0:3 USA). Vor einem Jahr gab er Servettes Meistergoalie Robert Mayer den Vorzug (1:3 Deutschland).
Akira Schmid ist nach dem gelungenen Spiel gegen Grossbritannien erst ein «halber» Viertelfinal-Goalie. Ein «ganzer» Viertelfinalist ist er erst, wenn er die Schweizer auch gegen einen Titanen zum Sieg zu hexen vermag.
Dazu gibt es in Prag noch zwei Gelegenheiten: am Sonntag gegen Kanada (20.20 Uhr, live SRF) und am Dienstag gegen Finnland (20.20 Uhr, live SRF).
PS: Ein guter (der richtige) Goalie ist im Viertelfinal nicht alles. Aber ohne guten (den richtigen) Goalie ist im Viertelfinal alles nichts.
Wieso Fischer nicht schon in diesem Jahr beide mitgenommen hat, sondern einen angeschlagenen Berra, weiss wohl nur er.
die Überheblichkeit hat den Kanadiern tags zuvor einen Punkt gekostet.
Weniger dumme Strafen kassieren wäre auch noch hilfreich