Nicht eine einzige Strafe. Auch keine für Haudegen und Captain Philippe Rytz. Nur ein unbedeutendes statistisches Detail? Nein. Ein Zeichen für eine neue Hockey-Kultur in Olten.
40 Minuten lang laufen die Langenthaler dem Spiel hinterher. Weil die Oltner gut organisiert den Puck laufen lassen. Taktik und Organisation statt Emotionen und Wucht – das ist für Olten eigentlich nicht typisch.
JAAA SIEG!!! Auch das zweite Derby entscheiden wir für uns!
— EHC Olten (@EHCOlten) November 20, 2019
SC Langenthal 3:5 EHC Olten
Tore für Olten: 0:1 Salzgeber, 0:2 Chiriayev, 3:3 Horansky, 3:4 Chiriayev, 3:5 Rytz
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Das Spiel der Oltner war über die Jahre mehr durch spielerischen Rock'n'Roll, Unberechenbarkeit und Leidenschaft geprägt. Die Entwicklung hin zum smarten, geordneten, skandinavischen «Schablonen-Hockey» unter dem neuen schwedischen Trainer Fredrik Söderström ist bemerkenswert und erfolgsversprechend. Die Leidenschaft ist ja geblieben. Und inzwischen ist Dion Knelsen ein Leitwolf geworden. Grosse Klasse, wie er, als Langenthal aus dem 0:2 ein 3:2 gemacht hatte und alles aus dem Ruder zu laufen droht, die Scheibe in der eigenen Zone aufnimmt, übers ganze Spielfeld stürmt. Seinen Schuss stoppt Philip Wüthrich. Aber Stanislav Horansky verwertet den Abpraller zum 3:3. Der Anfang vom Ende für Langenthal.
Oltens neue Hockeykultur ist noch ein zartes Pflänzchen, die Entwicklung noch lange nicht abgeschlossen. Wir sind ja auch erst im November und Trainer Fredrik Söderström steht ja in seiner ersten Saison. Aber die Oltner mahnen ein wenig an die Langenthaler, die auch eine längere Angewöhnungsphase an ihren schwedischen Trainer Per Hanberg brauchten und schliesslich in dessen zweiter Saison Meister geworden sind.
Im Schlussdrittel fällt das System der Oltner unter der Wucht des Langenthaler Ansturms kurzzeitig zusammen. Ein Time-Out verschafft Luft, der Coach sortiert seine Jungs wieder und am Ende gelingt doch der bemerkenswerte Triumph. Nach einem harzigen Start entwickelt sich Olten zu einem Spitzenteam, das erstmals in diesem Jahrhundert die Liga gewinnen und in der Liga-Qualifikation gefährlich werden kann. Die Oltner haben nun neun der letzten zehn Spiele gewonnen.
Das Spiel ist aber noch aus einem anderen Grund sehr interessant. Wie eigentlich die meisten Partien mit dem SC Langenthal in diesem Zusammenhang interessant sind. Es geht um Torhüter Philip Wüthrich (21).
Der SC Bern hat ein Torhüter-Problem. Das sagt natürlich niemand. Aber alle wissen es. Das «Experiment Schlegel» funktioniert nach wie vor nicht richtig.
Der Plan: Niklas Schlegel (25) zur neuen Nummer 1 als Nachfolger von Leonardo Genoni aufzubauen und nächste Saison Langenthal Meistergoalie Philip Wüthrich (21) – ein SCB-Junior – zurückzuholen und zur Nummer 2 zu machen.
Hockeytheoretisch ist dieser Plan klug. Funktioniert das Duo Niklas Schlegel (Vertrag bis 2021) und Philip Wüthrich (Vertrag bis 2022) nächste Saison – dann ist der Meister erst einmal alle Goalie-Sorgen los und hat erst noch ein Torhüter-Duo zu einem vernünftigen Preis.
Aber eben: das ist die Theorie. In der Praxis sieht es ein wenig anders aus. Niklas Schlegel ist statistisch ein «Lotter-Goalie» und hat inzwischen den Nummer-1-Status an Pascal Caminada (33) verloren. An eine «ewige» Nummer 2» mit auslaufendem Vertrag.
Nächste Saison mit dem Duo Niklas Schlegel/Philip Wüthrich? Wahnsinn? Ja. Das «Bayern München des Hockeys» braucht nächste Saison vor allem Anfang eine solide Torhüterlösung. Goalie-Titanen gehören zur DNA des Titelverteidigers.
Die SCB-Geschichte ist seit den 1960er Jahren von grossen, meisterlichen Goalies geschrieben worden. Von René Kiener (Meister 1959 und 1965), Jürg Jäggi (Meister 1974, 1975, 1977 und 1979), Renato Tosio (Meister 1989, 1991, 1992 und 1997), Marco Bührer (Meister 2004, 2010 und 2013) und Leonardo Genoni (Meister 2017 und 2019). Goalie-Experimente passen so wenig zur konservativen SCB-Kultur wie Rucksack-Touristen ins Hotel Bellevue Palace beim Bundeshaus.
Die Diskussion, ob es verantwortbar ist, dem Duo Niklas Schlegel/Philip Wüthrich das Hüten des «heiligen SCB-Grals» zu überlassen, ist also berechtigt. Wahnsinn oder vertretbares Risiko? Die Frage geht an André Rufener, interessanterweise dem Agenten beider Goalies und damit sozusagen «Verwalter» des SCB-Schicksals.
André Rufener macht SCB-Sportchef Alex Chatelain Mut: «Ich sehe kein Problem. Wüthrich wird ein grosser Goalie. Davon bin ich zu hundert Prozent überzeugt. Er wird sich so durchsetzen wie einst Reto Pavoni in Kloten. Der kam als Elitejunior für den grippekranken André Mürner ins Tor, blieb und der Rest ist Geschichte.» In der Tat: Mit Reto Pavoni hat Kloten viermal hintereinander die Meisterschaft gewonnen. Er ist als einer unserer grössten Goalies in die Geschichte eingegangen.
André Rufener weiss, wovon er spricht, wenn er Philip Wüthrich mit Reto Pavoni vergleicht. Er spielte damals in Kloten. Und junge Goalies kann er einschätzen: Sein Klient Melvin Nyffeler (24) war einst für die Lakers auch ein «Risikotransfer» und ist vom Rock’n’Roller zum Aufstiegs-und Cuphelden und Nationalgoalie gereift.
Nun ist André Rufener ein höflicher Mann und kein Agent lässt sich, wenn es um seine Klienten geht, zu einer Polemik verführen. Aber ganz offensichtlich ist sein Glaube echt: Weil er so sehr von Philip Wüthrich überzeugt ist, hat er sich intensiv darum bemüht, auf diese Saison dessen Interessen vertreten zu dürfen.
Philip Wüthrich in Bern also der nächste in der Ahnenreihe der grössten Goalies? Gerade wegen dieser Frage sind diese Saison Langenthals Auftritte so interessant.
Statistisch ist der SCL-Schlussmann diese Saison kein «Überflieger». Mit einer Fangquote von 91,67 Prozent ist er hinter Oltens Silas Mathys, Visps Reto Lory und Klotens Dominic Nyffeler (der Bruder von Rappis Melvin Nyffeler) die Nummer 4. Gegen Olten war er mit einer Abwehrquote von 89,19 Prozent bloss solider Durchschnitt. Aber sein Sportchef Marc Eichmann, zwölf Jahre lang in Langenthal einer der besten Torhüter in der Geschichte der zweithöchsten Liga, mahnt zur Vernunft: «Ein junger Goalie kann noch nicht in jeder Partie sein bestes Hockey spielen.»
Sein bestes Hockey hat Philip Wüthrich im letzten Frühjahr gezeigt. Mit einer geradezu phänomenalen Fangquote von 95,44 Prozent liess er in 15 Playoff-Partien im Schnitt nur 1,43 Tore zu. Im Finale kassierte er gegen La Chaux-de-Fonds in vier Spielen gar nur drei Gegentore und machte Langenthal zum Meister. Seither ist er der grosse SCB-Hoffnungsträger.
Zusammenfassend lässt sich ganz ohne Polemik feststellen: Philip Wüthrich ist noch nicht der nächste SCB-Meistergoalie. Das ist die schlechte Nachricht.
Aber wenn wir zum Vergleich nur die Leistungen der laufenden Saison berücksichtigten, dann dürfen wir sagen: Er spielt schon wie der nächste Leonardo Genoni. Das ist die gute Nachricht.