Im Rückblick werden wir eine ganz besondere Dramatik der WM 2015 in Prag erkennen. Es war wahrscheinlich die letzte WM von Mark Streit (37) – und bei Mark Streits letzter WM hat Roman Josi in Weltklassemanier das letzte Schweizer Tor (das 1:0 gegen die USA) des Turniers erzielt. Ein Zeichen für eine Zeitenwende.
Alles deutet darauf hin, dass eine Ära (die Ära von Mark Streit) zu Ende gegangen ist und definitiv eine neue Ära (die Ära von Roman Josi) begonnen hat. Mark Streit prägte als Einzelspieler unser Hockey seit 1998. Nun wird es künftig Roman Josi tun. Er ist unser erster NHL-Star.
Woran erkennen wir, dass ein Spieler in der NHL ein Star ist? Für uns sind alle Stars, die es in die NHL geschafft haben. Aber um auch in Nordamerika ein Star zu sein, braucht es viel mehr. Erst wenn ein Spieler von den einflussreichen NHL-Chronisten als ernsthafter Kandidat für eine der vielen NHL-Trophäen ins Spiel gebracht wird, hat einer Star-Status.
Bis heute war dies erst bei einem Schweizer der Fall. Bei Roman Josi. Er hat zwar die Auszeichnung zum besten NHL-Verteidiger noch nicht gewonnen. Aber er wurde diese Saison erstmals als Kandidat für die James Norris Trophy 2015 genannt. Er gehört nun also auch für die nordamerikanischen Beobachter zu den besten Verteidigern der NHL. Er ist damit der erste echte NHL-Star aus der Schweiz.
Ist diese Einschätzung richtig? Ist Roman Josi tatsächlich eine Nummer grösser als Mark Streit? Mark Streit brachte es als erster Feldspieler in der NHL zu Dollarmillionen und zum Captain. Deshalb hat er für unsere Hockeykultur nach wie vor eine grössere historische Bedeutung und gilt noch als bester Schweizer Spieler aller Zeiten. Aber hockeytechnisch ist Roman Josi inzwischen besser. Das hat auch die WM 2015 gezeigt.
Was ist der Unterschied zwischen Mark Streit und Roman Josi? Die Fähigkeit, eine Mannschaft zu führen, das Spiel zu steuern und zu entscheiden. Mark Streit ist ein «Offenseman». Ein fleissiger Offensivverteidiger mit guter Passqualität und ein Powerplay-Spezialist mit exzellentem Direktschuss. Er hat in sechs von neun NHL-Saisons mehr als 40 Punkte produziert. Roman Josi hat erst jetzt, in seiner vierten Saison, mehr als 40 Punkte erreicht und diese Saison mit 55 lediglich drei mehr als Mark Streit auf dem Konto.
Statistisch gibt es also kaum mehr eine Differenz. Was macht den Unterschied? Roman Josi hat einen grösseren Einfluss auf das Spiel und eine schier unfassbare Präsenz. Er ist ein sanfter Titan. Nur dem Zuschauer im Stadion (nicht aber am TV) offenbart sich diese Ausstrahlung. Wenn er mit Scheibe vorwärtsstürmt, dann zieht er die Aufmerksamkeit aller Zuschauer im Stadion auf sich. Weil jeder weiss, dass irgendetwas passieren wird.
Er hat die ganz seltene Gabe, das Spiel ein oder zwei Züge im Voraus lesen zu können – offensiv und defensiv. Deshalb gelingen ihm die genialen Zuckerpässe. Deshalb erkennt er sofort die Lücken im gegnerischen Abwehrdispositiv und sticht hinein (wie soeben im Viertelfinale beim 1:0 gegen die USA) und deshalb schliesst er die Lücken in der eigenen Verteidigung, bevor der Gegner davon profitieren kann. Sein Spiel ist magischer, kreativer, unberechenbarer als jenes von Mark Streit. Mark Streit ist ein exzellenter Maschinist, Roman Josi hingegen ein Ingenieur des Verteidigerspiels.
Wie sehr Roman Josi das Spiel zu beeinflussen vermag, zeigt uns auch die Nationalmannschaft. Die Schweiz hat ohne Mark Streit, aber mit Roman Josi 2013 das WM-Finale erreicht. Roman Josi ist 2013 zum MVP, zum wertvollsten Spieler der WM gewählt worden. Mark Streit war noch nie MVP bei einer WM.
Oder noch anders gesagt: Nur mit einem echten NHL-Star haben wir bei einer WM hin und wieder eine Chance auf eine Medaille. 2013 haben wir in Stockholm diese Chance genutzt. In Prag 2015 hingegen nicht. Eine neue Medaillenchance bekommen wir 2016 nur, wenn Roman Josi wieder dabei ist. Ohne Roman Josi müssen wir 2016 in Russland froh sein, wenn wir problemlos das Viertelfinale erreichen und nicht in Abstiegsgefahr geraten.