Kann uns ein Sportunternehmen eine Stadt, eine Region erklären? Ja, der SC Langenthal kann es. Und nur wenige personifizieren die ganz besondere Magie der Durchschnittlichkeit des SC Langenthal so gut wie … Jaro Tuma.
Nun mögen sich einige fragen: Jaro Tuma? Er war nur anderthalb Jahre lang Trainer des SC Langental. Er stand in der Saison 1983/84 an der Bande und wurde in der nachfolgenden Spielzeit entlassen.
Bloss eine Episode also in der 75 Jahre währenden Geschichte. Aber er ist der Faszination des Oberaargaus erlegen, mit seiner Familie geblieben und hat hier seine zweite Heimat gefunden.
Er war ein sehr guter Spieler und unter anderen Umständen hätte er eine Weltkarriere gemacht. Mit seinem Bruder nützt er während des Kalten Krieges 1968 eine Auslandreise mit Sparta Prag in Holland zum Sprung in die Freiheit, kehrt nicht mehr nach Prag zurück, wird ein Star in Holland und Deutschland, in Bayern heimisch und kommt im Herbst 1983 als Trainer nach Langenthal. «Ich habe zuerst gedacht: Mein Gott, was mache ich bloss hier?» Er habe sich an die Berge und Blumen und die Lebensfreude in Bayern gewöhnt. Aber Langenthal, das graue, neblige, langweilige, durchschnittliche?
Und doch ist er geblieben und arbeitet noch mit 71 Jahren erfolgreich als Spieleragent. Wobei: Das Wort Agent passt nicht zu diesem kultivierten, klugen Mann. Schon eher Berater. Oder väterlicher Freund.
Selbst der weitgereiste Jaro Tuma ist der Magie – oder besser: der Romantik – der Langenthaler Hockeykultur, der Langenthaler Durchschnittlichkeit erlegen: familiärer Zusammenhalt über die Generationen hinweg. Nicht verdorben vom grossen sportlichen Ruhm und zu viel Geld. Jeden Tag eine wirtschaftliche und sportliche Herausforderung. Ein wenig wie ein Flachland-Ambri.
Langenthal ist eine der durchschnittlichsten Ortschaften der Schweiz. 54 Kilometer östlich von Bern, 75 Kilometer westlich von Zürich. Lange Zeit im Selbstlob das grösste Dorf der Schweiz und erst seit 1997 offiziell eine Stadt. Mit inzwischen etwas mehr als 16'000 Einwohner.
Nach wie vor werden Konsumprodukte vor der Markteinführung auch in Langenthal getestet. Wenn es in Langenthal «funktioniert», dort, wo die durchschnittlichsten, typischsten Schweizerinnen und Schweizer leben, dann funktioniert es im ganzen Land.
Wie es sich gehört, wird hier Fussball und Hockey gespielt. Wie es sich in einer durchschnittlichen Stadt gehört, weit oben, aber eben nicht ganz oben. Der FC Langenthal stieg zweimal für eine Saison in die NLB auf (1959, 1969) und kickt heute in der 1. Liga Classic.
Der SC Langenthal ist mit drei Titeln in der zweithöchsten Liga (2012, 2017, 2019) ruhmreicher, steht für eine goldene Durchschnittlichkeit und feiert heute mit dem Spiel gegen Olten seinen 75. Geburtstag. Nicht zu alt. Das Hockey in Langnau, Bern und Biel ist älter. Aber auch nicht zu jung. Ajoie und Zug sind jünger. Auch hier: Durchschnitt.
An welchem Tag der Klub gegrĂĽndet worden ist, weiss niemand mehr. Nur das Jahr 1946 steht fest. Weshalb diese Saison die Abend-Heimspiele nicht um 19.45 Uhr wie sonst, sondern ganz offiziell um 19.46 Uhr beginnen. Marketing halt.
Weil die Kultur des Klubs stark durch die Derbys gegen Olten geprägt wird, hat der Vorstand entschieden, aus werbetechnischen Gründen den 14. Februar 1946 zum Geburtstag zu erklären. Damit am 14. Februar 2021 mit dem Derby ab 17.30 Uhr gegen Olten das 75-Jahre-Jubiläum gefeiert werden kann. So gesehen hat Spielplan-General Willi Vögtlin also Geschichte geschrieben.
Auch das ist guter Durchschnitt: ein wenig an der Geschichte schrauben, aber nicht zu viel. Beim Tag darf man schon mogeln. Beim Jahr aber nicht.
Der SC Langenthal, seit 2002 eine Aktiengesellschaft, war noch nie gut genug für den Auftritt auf der ganz grossen Bühne der höchsten Spielklasse. Und wird es auch nie sein. Die Magie reicht nicht aus, um in der Stadt so viel politischen Einfluss zu erlangen, dass in nützlicher Zeit – wie in Langnau – die Stimmbürger zweistellige Millionenbeiträge mit «DDR-Mehrheiten» von über 70 Prozent für einen neuen Sporttempel durchwinken.
Aber der SC Langenthal ist zu gut, die Hockeyleidenschaft ist zu gross, um zu resignieren und sich mit der Anonymität der Amateurligen zufrieden zu geben.
Der SC Langenthal behauptet sich im Jahr seines 75. Geburtstages mit grossem Erfolg in der zweitobersten Liga. Während andere Klubs mit viel besseren Voraussetzungen längst in der Anonymität entschwunden sind: Villars, Arosa, Basel, Thun, Chur, St.Moritz oder Luzern. Um nur ein paar zu nennen.
Beharrlichkeit, Klugheit, Bescheidenheit, manchmal auch Bauernschläue – das sind prägende Eigenschaften der Oberaargauer und der Hockey-Langenthaler. Was überschaubar, machbar, vernünftig ist – ja, gerne.
Aber die grossen Würfe, die grossen Risiken, die grossen öffentlichen Investitionen in den Sport oder in Sportanlagen – dann doch lieber nicht.
So kommt es, dass der SC Langenthal im Schoren, in der «schäbigsten» aber nach dem Verschwinden der Valascia auch kultigsten Arena unseres Profihockeys spielt. Von einer neuen Arena sind die Langenthaler weiter weg als von der Aufnahme in die NHL. Aber seit Jahren wird viel Geld aus öffentlichen Kassen für Projekte, Studien, Arbeitsgruppen, Analysen und sonstigen Schabernack «verpulvert».
So kommt es, dass im Oberaargau bis heute in der Stadt, die einst ein Dorf war, kein Fussball- oder Hockeystadion steht, das den Ansprüchen der höchsten Liga im 21. Jahrhundert entspricht und es ist nie gelungen, im Fussball oder Eishockey in die höchste Liga aufzusteigen.
Der SC Langenthal wäre sportlich dazu dreimal reif gewesen (2012, 2017 und 2019), hatte jedoch weder die wirtschaftlichen noch die infrastrukturellen Voraussetzungen für die höchste Liga.
Ja, 2019 waren sich die Langenthaler ihrer Durchschnittlichkeit so klug bewusst, dass sie nach dem Gewinn der Swiss League freiwillig auf die Liga-Qualifikation gegen die Lakers, auf das «Stechen» um den letzten Platz in der höchsten Liga verzichtet haben.
Die Gefahr eines Aufstieges war einfach zu gross. Wegen dieses Verzichtes ist der SC Langenthal mit einem dreijährigen Aufstiegsverbot belegt worden.
Die Durchschnittlichkeit hat etwas mit der Lage zu tun. Langenthal ist das wirtschaftliche Zentrum des Oberaargaus. Eine geographisch nicht eindeutig wahrnehmbare Region oder Sportlandschaft ohne natĂĽrliche Grenzen im Herzen der Schweiz.
Im 21. Jahrhundert halten viele den Oberaargau für einen rückständigen Teil des Kantons Aargau und wundern sich, dass in der Gegend nicht mehr weisse Socken getragen werden und Opel Manta gefahren wird.
Der Oberaargau war noch nie eine Region mit einer ganz besonderen Identität, mit einem «Nationalstolz» wie das Emmental oder das Berner Oberland.
Das hat eine viel stärkere Auswirkung auf den SC Langenthal als gemeinhin angenommen wird. Der regionale, sozusagen «interkommunale» Stolz ist die Voraussetzung für die Finanzierung von ganz grossen Infrastrukturen oder Klubs in der höchsten Fussball- oder Hockeyliga.
Der SC Langnau (heute SCL Tigers) ist die «Nationalmannschaft» der Emmentaler, der FC Thun jene der Berner Oberländer. Der SC Langenthal oder der FC Langenthal werden nie die «Nationalmannschaft» des Oberaargaus sein. Und so ist es auch nicht möglich, eine Arena zu bauen, an der sich mehrere Gemeinden beteiligten.
Der Oberaargauer ist auch im Sport nicht Oberaargauer. Er ist Langenthaler, Huttwiler, Lotzwiler, Wiedlisbacher oder Roggwiler. Es gibt im Einzugsgebiet des SC Langenthal mehr SCB- und Langnau-Fans als SCL-Anhänger.
Der SC Langenthal wird nie ganz oben Meister werden wie die gleich alten Langnauer. Aber der SC Langenthal wird auch nie untergehen.
Die Magie der goldenen Durchschnittlichkeit wird den Langenthalern weitere 75 gute Jahre dort bescheren, wo ihr Platz ist und wo sie sich wohl fĂĽhlen: gleich in der ersten Reihe hinter den ganz Grossen und Grossartigen im Land.
So bleibt ihnen der ewig währende Stress erspart, der ihre Erzrivalen aus Olten bei der erfolglosen Jagd nach dem schon im letzten Jahrhundert verlorenem NL-Ruhm umtreibt.