Ambri – eine neue Ära, Verschwörungstheorien und die Frage: Wer kann Präsident?
Ausgerechnet Ajoie. Der erste Gegner für den Neuanfang könnte symbolträchtiger nicht sein. Das «ewige» Schlusslicht. Ein Zufall? Oder ein Fingerzeig der Hockey-Götter? Wenn Ambri jetzt die Identität, die DNA verliert, die Duca und Cereda über Jahre kultiviert haben, dann droht Ambri das Schicksal von Ajoie. Sportliche Bedeutungslosigkeit am Katzentisch unseres Profihockeys.
Immerhin: Ambri hat im ersten Spiel im neuen Tempel ohne Luca Cereda an der Bande Ajoie 3:2 besiegt und die Schmach des letzten Platzes abgewendet. Kein Sieg der Ekstase, eher ein hektischer Tanz auf dünnem Eis. Ambri taumelte zu diesem Sieg. Die sonst für dieses Team so typische Energie fehlte.
Das ist nach den Irrungen und Wirrungen der letzten Tage zwar verständlich. Aber diese Energie kehrt nur zurück, wenn sie von den Führungspersönlichkeiten – vom Sportchef, vom Trainer – tagtäglich gelebt wird.
Weil das Geld knapp ist (Duca und Cereda stehen noch sechs Monatsgehälter zu), sollen die bisherigen Assistenten Eric Landry und René Matte das Team bis Ende Saison führen und Operetten-Geschäftsführer Andreas Fischer vorerst die Arbeit des Sportchefs übernehmen. So muss nicht zusätzliches Geld ausgegeben werden. Eine Lösung, die mehr nach Sparprogramm als nach Aufbruch tönt. Ambri mag knapp an Geld sein, aber reich an Improvisationen. Das alles ist nicht offiziell. Denn bis Sonntag gilt das Dekret des Schweigens («Silenzio Stampa»).
Und wie war es nun in Ambri, nach gut acht Jahren erstmals ohne Luca Cereda unten an der Bande und ohne Paolo Duca oben auf der Tribüne? Spruchbänder und Sprechchöre für die beiden vor dem Spiel. Eine schriftliche Erklärung – sozusagen ein Manifest – der wichtigsten Fangruppe Gioventu Biancoblu in italienischer Sprache wird verteilt. Doch kein Aufstand. Kein Boykott. 6546 Männer, Frauen und Kinder sind herbeigeeilt. Ungefähr gleich viele wie letzte Saison in den zwei Heimspielen gegen diesen Gegner (6160 und 6688). Die rührende, unerwartete Geste, die das Herz berührt am Schluss: Die Siegeshymne «La Montanara» ertönt und in der Mitte der Fankurve ein Schild mit den beiden Namen und dem Zusatz «per sempre» («für immer»).
Eigentlich ist es für Trainer und Sportchefs unmöglich, zum richtigen Zeitpunkt von der grossen Bühne abzutreten. Ihre Karrieren «verglühen» meistens in einer Entlassung oder sie werfen – wie HCD-Kulttrainer Arno Del Curto – das Handtuch. Aber nicht Duca und Cereda. Sie verlassen Ambri aufrecht und unbesiegt. Die Ära, die sie prägten, endet nicht auf dem Eis. Sondern im Büro. Nicht durch Niederlagen, Entlassung oder sportliche Misswirtschaft. Sondern durch Hochverrat. Durch Hochverrat ihres Präsidenten Filippo Lombardi. Hollywood hätte kein besseres Ende einer Ära erfinden können.
Aber eben: Wie geht es weiter? Diese Frage dominiert alle Gespräche rund um das erste Spiel der neuen Ära. Und es fehlt auch nicht an wunderbaren Verschwörungstheorien: Warum wusste watson vom Geheimtreffen zwischen Filippo Lombardi und Christian Dubé? Die Enthüllung hat zum Eklat geführt, weil Duca und Cereda dieses Treffen als «Hochverrat» empfunden haben. Wer also hat diese Information dem Chronisten gesteckt? War es Naivität? Berechnung? Oder gar ein gezielter Putschversuch gegen den grossen Vorsitzenden? Wird Lombardi versuchen, die Affäre auszusitzen, obwohl er doch sein Amt zur Verfügung gestellt hat? Kann ein Präsident Ambri noch vertreten, wenn er offensichtlich das Vertrauen der Basis verloren hat? Aber wer kann ihn überhaupt ersetzen? Gibt es geeignete Kandidaten? Wer kann Präsident? Ist es wahr, dass Operetten-Geschäftsführer Andreas Fischer seinen Präsidenten nach Zürich begleitet hat, statt ihm von diesem Geheimtreffen abzuraten? Hat man Lombardi in diese Falle laufen lassen? Allenthalben wird gesagt, es sei gut, dass bereits Ende November bei der Aktionärsversammlung reiner Tisch gemacht werden könne.
Das alles ist einerseits wunderbare Unterhaltung, aber andererseits auch ein wenig gefährlich. Zu viel Politik rund um ein Team, das nur eine Chance hat, wenn das begrenzte sportliche Potenzial optimal umgesetzt wird. Jeder Tag mit einer provisorischen Lösung auf der Trainer- und der Sportchefposition ist ein verlorener Tag. Wie viele verlorene sportliche Tage vermag Ambri mit seinen begrenzten finanziellen Möglichkeiten aufzuholen?
Nicht nur Romantiker nennen immer wieder Paolo Duca als idealen neuen Präsidenten. Finanziell unabhängig, allseits respektiert, bestens vernetzt, mit klugem politischem Gespür. Er personifiziert nachgerade Ambris Werte, Ambris DNA. Er ist vom Spieler direkt zum Sportchef befördert worden. Er kann Präsident. Warum also nicht eine Beförderung vom Sportchef direkt zum Präsidenten? Aber er müsste dann aus dem Hockey-Himmel der Legenden wieder herabsteigen. Es ist für den Chronisten nach allem, was ihm rund um die erste Partie einer neuen Ära erzählt worden ist, nach all den Fragen, die ihm gestellt worden sind, nicht einfach, auf der langen Heimfahrt die Gedanken zu sortieren.
Vor dem TV-Zeitalter engagierten die Zeitungen neben den Sportreportern zusätzlich Poeten und Philosophen, um die Dramen der Tour de France den Lesern in epischen Worten zu schildern und die Helden mit Feder und Pathos unsterblich zu machen. Mit ein Grund für den Mythos Tour de France.
Eigentlich müsste auch Ambri gerade in diesen Zeiten zwischen Puck, Pathos und Politik Poetinnen und Poeten, Philosophinnen und Philosophen faszinieren.
PS: Schlussworte der Zuversicht für Ambri: Präsidenten, Spieler, Sportchefs und Trainer kommen und gehen, Ambri aber bleibt bestehen.
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