Einsam sind die Tapferen (Lonely Are the Brave) – dieser Titel des melancholischen Filmklassikers aus den 1950er Jahren mit dem grossen Kirk Douglas in der Hauptrolle passt wunderbar zu diesem Spiel, ja zur ganzen aufwühlenden Geschichte Ambris. Drei Szenen führen im Emmental in eine Niederlage, die von den Hockey-Göttern nur Ambri zugemutet wird.
Erster Akt: Die Langnauer suchen am Ende des zweiten Drittels verzweifelt den Ausgleich. Sie stehen am Abgrund. Viel zu viele Emotionen lassen das Spiel über die taktischen Ufer treten. Das «Heinz-Ehlers-Hockey», das sie sonst mit der Präzision und der Ruhe eines Landvermessers auszuüben pflegen, ist zu einem wilden Kraftakt geworden.
Feuerkopf Chris DiDomenico wuchtet im Kampf um den Puck Jannick Fischer in die Bande. Die TV-Bilder zeigen: eigentlich eine strafbare Handlung. Wäre Ambris Verteidiger nun liegen geblieben, dann wäre das Spiel von den Schiedsrichtern mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Schutz der Gesundheit des Spielers auch dann unterbrochen worden, wenn sie keine Strafe ausgesprochen hätten. Das Chaos vor Torhüter Benjamin Conz wäre Ambri erspart geblieben. Es geht drunter und drüber. Schliesslich gelingt Langnau 30 Sekunden vor der zweiten Pause das 2:2 und die Rückkehr in ein verloren geglaubtes Spiel.
Jannick Fischer, also ein fairer Sportsmann, der nichts von Schwalben, von billigem Theater hält? Sicherlich ist er das auch. Aber er wird einen anderen Grund nennen, warum er so tapfer gleich wieder aufgestanden ist und weitergekämpft hat: «Meine Grossmutter schaut alle meine Spiele am Fernsehen. Sie wäre aufs Tiefste besorgt gewesen, wenn ich auf dem Eis liegen geblieben wäre. Das kann ich ihr nicht antun. Deshalb stehe ich in solchen Situationen sofort wieder auf …» Die Grossmutter, die ein Spiel beeinflusst – das gibt es nur bei Ambri. Wahrlich, einsam sind die Tapferen der Leventina.
Zweiter Akt: In der 52. Minute kassiert Langnau die Mutter aller dummen Strafen: zu viele Spieler auf dem Eis. Ambri trifft im Powerplay zum 3:2. Das müsste die Entscheidung sein. Eigentlich. Aber nur 27 Sekunden später versucht Jannick Fischer einen Pass von Ben Maxwell «abzubeissen» und lenkt den Puck ins eigene Tor zum 3:3. Alles beginnt wieder von vorne. In einem Augenblick, da Langnaus Schicksal besiegelt schien. Wahrlich, einsam sind die Tapferen der Leventina.
Dritter Akt: Aber noch einmal sind die Hockeygötter mit Ambri. In der 55. Minute kassiert Langnau einen Doppelausschluss: Julian Schmutz für ein glasklares Beinstellen und dazu gibt’s weitere zwei Minuten dazu, weil von der Spielerbank ausgemault worden ist. Fünf gegen drei. Das muss nun doch der Sieg für Ambri sein, das ja bereits eiskalt zwei Powerplay-Treffer erzielt hat! Erboste Zuschauerinnen und Zuschauer werfen Wechselgeld aufs Eis. Im Hockey-Tempel an der Ilfis ist solcher Unfug eigentlich so selten wie Fluchen während des Gottesdienstes in der Kirche zu Würzbrunnen. Das mag zeigen, wie hoch es zu und her geht.
Aber auf der Tribüne sagt ein in Ehren ergrauter Ambri-Kenner, der sicherlich in den letzten 40 Jahren schon mehr als 100 solcher Eisdramen gesehen hat, mit leiser Resignation: «Ach, das ist der Sieg für Langnau. Wir werden keinen Treffer erzielen und jeder Schiedsrichter der Welt wird diesen Doppelausschluss anschliessend mit einem Powerplay für Langnau kompensieren – und diesen Ausschluss werden die Emmentaler dann zum Siegestreffer nützen.» Was ja eigentlich nahezu unmöglich scheint: Das Powerplay der SCL Tigers ist das schwächste der Liga. Mit Abstand.
Aber exakt so werden es die Hockeygötter arrangieren. Die Langnauer überstehen den Doppelausschluss und in der 57. Minute wird Ambris Isacco Dotti auf die Strafbank abkommandiert. Der tapfere Abräumer, der in der höchsten Liga noch nie ein Tor erzielt hat, liefert mit einem Zweikampf den Schiedsrichtern die ersehnte, erhoffte, erwünschte Kompensationsmöglichkeit. Dabei ist er unschuldig. Vorher ist jede solche Aktion von den Refs grosszügig toleriert worden. Von Refs, die in dieser Partie viel zur Abendunterhaltung beitragen und für allerlei Erregung sorgen.
Und siehe da: Langnau erzielt im Powerplay tatsächlich den Siegestreffer zum 4:3 – und Ambri rutscht auf den letzten Platz ab. Nach einem Spiel, das es mit 36:30 Torschüssen dominiert hat. Im letzten Drittel gar mit 14:7. Wahrlich, einsam sind die Tapferen der Leventina.
Es ist eine der bittersten Niederlagen seit Luca Cereda im Sommer 2017 zum Bandengeneral befördert worden ist. Es ist die 7. Pleite in dieser Saison mit nur einem Tor Unterschied. «Ja, es ist bitter», sagt Ambris Trainer. Er könne keinem seiner Spieler einen Vorwurf machen. «Aber wir sind nicht mehr dazu in der Lage, so knappe Spiele zu gewinnen. Das müssen wir wieder lernen.» Er hadert nicht mit dem Schicksal. «Es liegt an uns.» Natürlich gibt es einen zentralen Grund, warum Ambri so oft so knapp verliert: zu wenig Talent. Mit Dominik Kubalik (letzte Saison Liga-Topskorer, jetzt in der NHL) hätte Ambri mindestens vier oder fünf dieser knappen Partien gewonnen. «Wahrscheinlich ist das so» sagt Luca Cereda. «Aber das spielt keine Rolle mehr. Das war letzte Saison.»
Wer Ambri jetzt immer noch nicht versteht, dem kommt die Erleuchtung nach dem Spiel im Kabinengang. Nach solch betrüblichen Niederlagen wird eigentlich überall gehadert, geflucht, gegrollt und gezürnt oder doch mindestens nach Ausreden gesucht, Pech beklagt und über die Schiedsrichter (die es ja nicht hören) lamentiert. Oft ist der frustrierte Trainer dann für die Chronisten nicht mehr zu sprechen.
Bei Ambri ist das anders. Jeder ist still mit dem Zusammenpacken beschäftigt und wer gefragt wird, gibt freundlich Auskunft. Auch Trainer Luca Cereda.
Es ist nicht Resignation oder Gleichgültigkeit. Es ist die stille Ernsthaftigkeit der Tapferen der Leventina, die aus leidvoller Erfahrung um ihr schweres Los wissen, in sich gehen und Selbstkritik üben. Marco Müller sagt beispielsweise: «Wenn wir ein 3:2 so kurz vor Schluss nicht über die Zeit bringen, dann sind wir selber schuld. Wir haben zu viele Fehler gemacht, mich eingeschlossen. Es ist in dieser ausgeglichenen Liga nicht möglich, ein Spiel zu gewinnen, wenn wir vier Gegentore zulassen.». Der Nationalstürmer hätte keinen Grund zur Selbstkritik. Er hat die Bühne mit einer Plus-Bilanz verlassen und zwei Assists zum Drama beigesteuert.
Einer versucht Luca Cereda ein wenig zu trösten: Wenn alles schief gehe, sei es durchaus möglich, dass es im nächsten Frühjahr zu einem furiosen Finale kommen könnte – eine Playout-Serie gegen Lugano. Er zeigt Ambris Trainer auf dem Smartphone mit der Teletext-App die aktualisierte Rangliste. 11. Lugano, 28 Punkte. 12. Ambri, 27 Punkte.
Die beiden Tessiner Klubs auf den letzten zwei Plätzen. Hat es das seit Einführung der Playoffs (1986) je gegeben? Keiner der Umstehenden kann sich an eine solch dramatische Situation erinnern. Lugano und Ambri am Ende der Tabelle – der 30. November beschert uns einen historischen Abend.
Melancholische Nostalgie am späten Samstagabend im Stadion an der Ilfis. Wehmütige Erinnerungen kommen auf: Im Frühjahr 1999 strebten Ambri und Lugano in der «Finalissima» (im Playoff-Finale) nach dem Titel, nach der höchste nationale Ehre. Die Tapferen aus der Leventina – verloren. Ausgerechnet in der «heiligen» Valascia durfte Luganos Captain Peter Andersson (der Vater des gleichnamigen SCB-Verteidigers) am 5. April 1999 den Pokal in die Höhe stemmen.
Die Zeit stand damals im Tessin still. Über das historische Ereignis ist vom Chronisten Piergiorgio «Tschambo» Giambonini sogar ein Buch geschrieben worden. Und nun, 21 Jahre nach diesem Gipfeltreffen könnte es in den Playouts zu einem Ringen um die Liga-Zugehörigkeit kommen. Was wäre das für ein Drama! «Tschambo» müsste noch einmal zur Edelfeder greifen.
Luca Cereda wird ein bisschen nachdenklich. Er war damals im Finale von 1999 als Spieler dabei und stürmte meistens neben dem Russen Oleg Petrow. Schliesslich sagt er: «Sollte es tatsächlich soweit kommen, so haben wir einen Vorteil: Wir wissen besser mit einer so schwierigen Situation umzugehen …» Die Tapferen der Leventina kennen sich aus in der Einsamkeit.
Lugano hat am Samstagabend zeitgleich bei den Lakers verloren (1:2). Es ist die 9. Niederlage in den letzten zehn Spielen. Sollten uns die Hockeygötter denn tatsächlich eine Playout-Serie zwischen Ambri und Lugano bescheren, so wagt der Chronist eine Prognose: Bei Ambri würde in jedem Fall immer noch Luca Cereda an der Bande stehen.
Aber bei Lugano nicht mehr Sami Kapanen. Es ist nicht einmal sicher, dass Luganos finnischer Trainer am 17. Dezember beim nächsten Tessiner Derby noch in Amt, Würde, Lohn und Brot stehen wird.
Nicht nur die Tapferen der Leventina sind einsam. Auch die notorischen Verlierer unter den Palmen Luganos sind es.
Ambri absteigen? Eigentlich undenkbar. Aber wir müssen im Wissen um die ganz besondere Geschichte auch das Undenkbare denken. Weil diese Saison schon einmal das Undenkbare in Ambri passiert ist: Der grosse Vorsitzende Filippo Lombardi ist nach 20 Jahren völlig überraschend aus dem Ständerat abgewählt worden. Denkbar knapp. Weniger als 50 Stimmen fehlten.
Wahrlich, auch in der Politik sind die Tapferen der Leventina einsam.
Mehr Janick Fischers, bitte.