Ist das alles wirklich Realität? Als die Formel 1 Saison 2022 begann, rieb sich so manch ein Ferrari-Fan verwundert die Augen: Doppelsieg zum Auftakt. Fünf Podestplätze und zwei Siege in den ersten drei Rennen. Charles Leclerc der souveräne Leader im WM-Klassement. Der Traum vom ersten WM-Titel für Ferrari seit Kimi Räikkönens Triumph 2007 lebte. Die Erinnerungen an die glorreichen Zeiten rund um Michael Schumacher flammten wieder auf. Und für einige Momente war die lange Durststrecke seither plötzlich vergessen.
Doch nun, gut vier Monate später, ist bereits wieder alles anders. Die Hoffnung ist der Ernüchterung gewichen. Anstatt des Anblicks eines jubelnden Charles Leclerc, der ein Rennen nach dem anderen gewinnt, ist ein anderes Bild zur Gewohnheit geworden: Jenes des frustrierten und unzufriedenen Leclerc, der erklären muss, warum wieder alles schiefgelaufen ist. 80 Punkte beträgt Leclercs Rückstand auf Leader Max Verstappen nach 13 von 22 Rennen bereits – in der Konstrukteurs-WM liegt Ferrari fast 100 Punkte hinter Red Bull. Alle Titel-Träume sind so gut wie ausgeträumt.
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— Formula 1 (@F1) July 31, 2022
Doch wie ist es dazu gekommen? Beim vierten Grand Prix der Saison, ausgerechnet beim Ferrari-Heimrennen in Imola, folgte das erste Debakel. Leclerc startet aus der Poleposition, schafft es nach einem Fahrfehler aber nur als Sechster ins Ziel.
Ende Mai in Barcelona die nächste Enttäuschung. Leclerc scheidet nach einem technischen Defekt in Führung liegend aus. Der Ausfall bedeutet gleichzeitig den erstmaligen Verlust der WM-Führung, die Dominanz von Red Bull mit sechs Siegen in Serie nimmt seinen Lauf.
Nur eine Woche später folgt der nächste Rückschlag für den Monegassen Charles Leclerc, und dies ausgerechnet bei seinem Heimrennen in Monaco. Ferrari holt Leclerc in der gleichen Runde an die Box wie Teamkollege Sainz, was den Monegassen mehrere entscheidende Sekunden kostet. Anstatt das Rennen zu gewinnen, landet Leclerc auf dem vierten Rang. Erstmals kritisiert Leclerc im Anschluss sein eigenes Team um Chef Mattia Binotto, spricht zwar diplomatisch, aber doch deutlich von den «vielen Fehlern», die gemacht werden.
Doch es wird alles nur schlimmer. Im nächsten Rennen in Aserbaidschan müssen beide Ferraris das Rennen nach einem technischen Defekt frühzeitig aufgeben – mit Leclerc, der bis zu diesem Zeitpunkt in Führung liegt.
Nach einem mässigen Rennen in Montreal Mitte Juni folgt der diskussionsträchtige Grand Prix im Juli in Silverstone. Während Teamkollege Carlos Sainz zum ersten Mal in seiner Karriere ein Formel-1-Rennen gewinnt, ist Leclerc wieder frustriert, weil er das Podest verpasst. Was ist passiert? Ferrari lässt den in Führung liegenden Teamleader Leclerc nicht an die Box, während Sainz mit neuen Reifen ausgestattet wird. Ferrari-Teamchef Mattia Binotto sagt trotzdem: «Ein schwieriges Wochenende? Nein, wir sollten glücklich sein.»
Doch auch Leclerc selbst ist nicht frei von Fehlern. Ende Juli in Frankreich scheidet er in Führung liegend aus, nach einem Fahrfehler. Hinterher sagt er: «So etwas darf mir nicht passieren». Und nun, im letzten Rennen vor der Sommerpause in Ungarn am letzten Wochenende, gibt erneut die Taktik zu reden. Leclerc und Teamchef Binotto sind sich uneinig betreffend Reifen, derweil Rivale Verstappen wieder gewinnt, gibt Leclerc nach seinem sechsten Rang seine WM-Chancen auf. «Solange wir unsere Probleme nicht in den Griff kriegen, müssen wir uns gar nicht mit dem Titel beschäftigen.»
Einen Monat dauert die Sommerpause nun, bevor der Formel-1-Zirkus am letzten August-Wochenende in Belgien auf die Strecke zurückkehrt. Viel Zeit für gründliche Analysen. Analysen, die vor allem für einen entscheidend werden: Ferrari-Chef Mattia Binotto. Die Kritik an ihm wächst. Erste Gerüchte, wonach er seinen Posten räumen muss, sind bereits im Umlauf. Fakt ist: Die Missverständnisse zwischen ihm und Ferrari-Star Leclerc mehren sich. Leclerc, durchaus selbstkritisch, gefällt es nicht, wie Binotto von den eigenen Fehlern ablenken will. Und er fühlt sich von seinem Team, in dem er die klare Nummer 1 sein sollte, nicht ernst gekommen. Langfristig scheint eine weitere Zusammenarbeit ziemlich kompliziert.
Und der Blick zurück auf den gloriosen Saisonstart scheint bereits ewig her. Das Warten auf den ersten Ferrari-Titel seit 2007 geht ziemlich sicher weiter.