Ein Link und ein Emoticon – das war alles, was es gestern brauchte, um mir bereits am frühen Morgen so richtig den Tag zu versauen. Vollbracht hat dieses Kunststück ein ehemaliger Studienkollege. Der «Güller», wie wir ihn damals in der Mensa mässig kreativ zu nennen pflegten – weil er halt eben aus St.Gallen stammt.
Per WhatsApp hat der «Güller» mir den traurigen Smiley geschickt. Ihr wisst schon. Nicht den übertriebenen, wo die Tränen bächeweise runterströmen. Auch nicht der, der dabei lacht – der heult ja bloss vor lauter Glück. Es war der Smiley mit dem traurigen Mund, dem eine einzelnen Träne über die Wange kullert. Dazu der Link vom St.Galler Tagblatt: Barnetta erteilt dem FC St.Gallen eine Absage.
Es werde diesen Sommer definitiv nichts mit der ersehnten Rückkehr des verlorenen Sohnes, stand da zu lesen. Der 30-jährige Tranquillo Barnetta hat das Angebot des FCSG abgelehnt und will stattdessen nach elf Jahren in der Bundesliga noch ein Abenteuer im fremdsprachigen Ausland erleben. Philadelphia Union in den USA, Leicester und Betis Sevilla seien im Gespräch. Ich könnte schwören, dass ich während der Lektüre in meinem Bett mitten in Zürich aus der Ferne tausende Ostschweizer Fanherzen habe brechen hören.
Denn seit Anfang Juli durchsickerte, dass Grün-Weiss an seinem derzeit grössten Fussballexport baggert, ist im Osten um Barnetta ein regelrechter Hype entstanden. Die Facebook-Gruppe «Quillo come home – für immer einer von uns» mit über 3000 sehnsüchtigen FCSG-Fans war nur eines der vielen Symptome des Barnetta-Fiebers.
Fast täglich machten neue Wasserstandsmeldungen die Runde – auch wenn es eigentlich nichts zu vermelden gab. Denn Barnetta hat sich sehr viel Zeit gelassen. Einmal wollte er sich an einem Mittwoch «bis nach dem Wochenende» entscheiden. Als eine Woche später noch immer Funkstille herrschte, hat man sich eben mit den wenigen ausgeplauderten Details aus zweiter Hand beschäftigt.
Ob man dem «Quillo» denn genügend finanzielle Anreize bieten könne, war so ein Thema. Es sollen 350'000 Franken pro Jahr gewesen sein. Man müsse ihm langfristige Perspektiven bieten, meinten die anderen. Herausgekommen ist angeblich ein Zweijahresvertrag mit der Option einer Weiterbeschäftigung im Klub.
Nüchtern betrachtet, ist die Euphorie um Barnetta in St.Gallen gar nicht so leicht zu verstehen. Klar, kurz nach dem Meistertitel hat er 2002 als 17-jähriger Jungspund gross aufgespielt und dadurch einen Stammplatz und viele Herzen im Espenmoos erobert – doch nach nur zwei Saisons war der Zauber ja auch schon wieder vorbei. Bloss 50 Liga-Spiele sind dabei zusammengekommen, bei seiner nächsten Station in Leverkusen waren es fast viermal so viel. Sogar das Nati-Trikot hat der italienischstämmige Linksaussen bei seinen 75 Einsätzen öfter getragen.
Irgendwie muss diese grenzenlose Sympathie mit dem gemeinsamen Schicksal vieler St.Galler zusammenhängen. Wie Barnetta wachsen sie in dieser 75'000-Seelen-Stadt am Rand der Schweiz mehr oder weniger glücklich auf. Von Rotmonten bis Winkeln kennt hier jeder jeden. Man geht gemeinsam ins «Kugl» oder «Palace», hält Schützengarten-Bier für die grösste Erfindung der Menschheitsgeschichte und hat einmal im Jahr die ganze Schweiz zu Besuch am Openair.
Nur sollte man dann irgendwann studieren, oder sonst etwas Schlaues lernen. Und dann sind die Optionen begrenzt, zumindest wenn man nicht viel Lust darauf hat, sich an der HSG neoliberal indoktrinieren zu lassen. Während die Alten noch vom goldenen Zeitalter der mittlerweile stillgelegten Stickereien schwärmen, sucht man sich ein WG-Zimmer in einer anderen Stadt.
Dort wirft man den Bratwurst-Senf des Mitbewohners weg, lernt sein Handwerk, macht Karriere und hört den famosen «Stahlberger», wenn das Heimweh in einsamen Nächten doch einmal zu gross werden sollte. Irgendwann kehrt man erfolgreich zurück und ist wirklich furchtbar froh, dass die fiesen Scherze über den Dialekt endlich ein Ende haben. Das alles hätte Barnetta auch haben können. Will er aber nicht. Noch nicht.
Und das macht mich als Basler traurig. Mit Marco Streller und Alex Frei habe ich 2007 und 2009 hautnah erlebt, welche Signalwirkung ein gestandener Rückkehrer haben kann. Ein grosser Name, der trotz Millionenofferten aus dem Ausland wieder für den Herzensklub spielen will – das kann im Stadion und in der Mannschaft Emotionen schüren, die sich durch keinen Super-Söldner der Welt aufwiegen lassen. Gut möglich, dass der FC St.Gallen sich dank dieser Dynamik mit Barnetta wieder vom Mittelfeld- zum Spitzenklub gemausert hätte.
Beim FCB haben sie mit Zdravko Kuzmanovic gerade den nächsten Fisch aus dieser Kategorie an Land gezogen. Wir Basler wissen, wie es geht. Deshalb fühle ich mich auch berufen, mit den Ostschweizern einen letzten verzweifelten Anlauf im Kampf um Tranquillo Barnetta zu machen. Um die Sache doch noch zu einem unerwarteten Happy End zu bringen, setze ich mich in den Zug nach St.Gallen.
Der Plan ist simpel: Barnetta hat bei seiner Absage betont, der finanzielle Aspekt habe nicht den Ausschlag gegeben. Mit Geld allein ist er also wohl kaum umzustimmen. Kleine «Geschenke» aus der Heimat erscheinen mir da vielversprechender.
Vier Stunden tingle ich quer durch St.Gallen und quatsche wahllos jeden Passanten an, der sich bei drei nicht auf einen Baum gerettet hat. «Was würdest du geben, wenn sich Barnetta doch noch umentscheidet?»
Es gibt Rückschläge, das muss ich zähneknirschend eingestehen. Ich kassiere mehr Abfuhren als ich zählen kann. Der Metzger, dem ich eine Bratwurst abschwatzen will, setzt mich einfach vor die Tür. Mein Dialekt scheint die Einheimischen misstrauisch zu machen – und als ich ihn verstelle, beginnen sie auf Hochdeutsch zu antworten. Ausserdem werde ich in der Stiftskirche ausgelacht, weil ich auf der Suche nach göttlichem Beistand für die «Mission Barnetta» einen Mönch sprechen möchte. Die leben anscheinend seit 1805 nicht mehr im heutigen Unesco-Weltkulturerbe.
Auch im Naherholungsgebiet «Drei Weieren» werde ich bei über 30 Grad ohne Badehose misstrauisch begutachtet. Die Ausbeute kann sich am Ende des Tages trotzdem sehen lassen:
Ein halbes Päckli Zigis, ein Eistee, eine Sonnencréme, eine Sonnenbrille und ein Laubbläser! Das ist doch ein famoses Angebot. Tranquillo Barnetta, falls du es dir nun doch noch anders überlegst: Ruf mich an, du hast meine Nummer.
Der «Güller», mein alter Studienkollege, würde sich auf jeden Fall auch tierisch freuen.
Gratulation der Artikel könnte von einem Heimweh St.Galler kommen...