Eder? Was zum Teufel ist bloss aus Eder geworden? Wo ist der Mann, der am Abend des 10. Juli 2016 Portugal zum Europameister und ein ganzes Land glücklich gemacht hat? Eder war als Joker auf den Platz gekommen und hatte in der Verlängerung mit einem haltbaren Schuss aus 23 Metern zum 1:0 ins Netz und die Franzosen ins Mark getroffen.
Es ist in Andorra schon spät am Samstagabend. Die Portugiesen haben soeben mit Ach und Krach den Fussballzwerg aus dem Fürstentum mit 2:0 besiegt, als Ederzito Antonio Macedo Lopes, genannt Eder, aus der Kabine tritt und mit leerem Blick zum Teambus schlurft. Vorbei an den vielen Kameras und Mikrofonen. Doch nicht ein einziger Journalist interessiert sich für ihn, keiner mag ihm eine Frage stellen.
Ist das tatsächlich jener Mann, über den nach dem EM-Triumph eine Autobiografie erschien und herzzerreissende Geschichten erzählt wurden von einem Leben in Armut, einer Mutter, die ihn nicht ernähren konnte und ihn deshalb in ein Heim geben musste? Und über einen Vater, der wegen eines Mordes im Gefängnis sitzt.
An diesem kalten Oktoberabend in den Pyrenäen sind die glückseligen Pariser Momente von 2016 weit weg. Wieder hat der 29-Jährige mit Wurzeln in Guinea-Bissau nicht spielen dürfen. Aus dem gefeierten Helden ist längst ein vergessener geworden. Kein einziger Klub hatte ihm nach der EM einen roten Teppich ausgerollt, und so war er eben bei Lille in der Ligue 1 geblieben. Als in diesem Sommer nun aber mit Marcelo Bielsa ein neuer Trainer kam, war für Eder kein Platz mehr, und er wurde nach Russland an Lokomotive Moskau ausgeliehen.
Selbst in der Seleção verblassten seine Meriten schnell. Weil Trainer Fernando Santos nach dem Prinzip «Leistung vor Verdiensten» arbeitet und Eder vermutlich selber für eine Eintagsfliege hält, bot er ihn neun Spiele lang nicht mehr auf. Nach zwei Toren in vier Partien für Moskau lud ihn Santos nun aber wieder ein. Wenn Teamkollege João Mario sagt, man habe ja gesehen, wie wichtig Eder für Portugal sein könne, dann klingt es indes fast so, als sei er froh, ein Maskottchen dabei zu haben. Viel mehr ist Eder momentan nicht.
Nicht viel besser ist es dem in Frankreich fast ebenso gefeierten Mittelfeldspieler Renato Sanches ergangen. Wie sind die Bayern doch gelobt worden für ihren Spürsinn; dafür, dass sie den 18-Jährigen schon längst gescoutet und für 35 Millionen Euro von Benfica abgelöst hatten, bevor dieser auf dem grossen Radar erschienen war.
Doch dann hatte Trainer Carlo Ancelotti im jungen Portugiesen nicht jenen Spielmacher gesehen, für den ihn so viele Experten hielten, und Sanches auf der Ersatzbank verwelken lassen. Ob es ihm nun als Leihspieler von Swansea gelingt, in der Premier League seine Karriere neu zu lancieren und in der Nationalmannschaft wieder eine wichtigere Rolle zu spielen?
Zum Lottosechser für das Leben auf Klubebene ist das Turnier für die wenigsten Europameister geworden. So spielt von den Finaltitularen Goalie Rui Patricio noch immer bei Sporting Lissabon wie William Carvalho auch; Cédric Soares noch immer bei Southampton und Pepe nicht mehr bei Real Madrid, sondern in der Türkei. Raphael Guerreiros Transfer zu Dortmund war schon vor der EM aufgegleist, Nanis Karriere ist bei Lazio Rom noch nicht wieder in Schwung gekommen und Regisseur João Mario hat bei Inter in dieser Saison erst ein Mal 90 Minuten gespielt.
Aber besonders erstaunlich sind die bescheidenen Werdegänge der meisten Europameister nicht, wenn man sich in Erinnerung ruft, wie sich Portugal an der EM mit drei Unentschieden in die K.o.-Phase gemogelt hatte und auch danach nicht durch beschwingten Angriffsfussball auffiel. Ja, als Schweizer hätte man im Viertelfinal liebend gern die Schweiz statt Polen gegen Portugal spielen sehen – und sich gute Chancen auf den Halbfinal ausgerechnet.
Nein, Portugal war 2016 wahrlich keine Übermannschaft und ist es auch heute nicht. Aber es hat Ronaldo. Müssten sie immer ohne ihn spielen, dann wären sie nur ein biederes Durchschnittsteam. Zwar haben sie ohne ihren damals verletzt ausgeschiedenen Star den EM-Final gewonnen, aber in manch anderer Partie ohne ihn, wie vor einem Jahr beim 0:2 in der Schweiz, nicht überzeugt. Gut möglich, dass es Portugal in Andorra nicht mal zum Sieg gereicht hätte, wäre Ronaldo nicht als Retter eingewechselt worden.
Vor diesen Portugiesen muss sich die Schweiz gewiss nicht fürchten. Vor Ronaldo aber schon ein bisschen.
Portugal ist nicht so schlecht wie es dieser Artikel darzustellen versucht.