Die Futsal-Mannschaft von Jester 04 Baden wartet in der warmen Abendsonne von Lenzburg auf einen letzten Nachzügler. Als Wiedergutmachung liefert der bei seiner Ankunft mit einem neuen Auto gleich das grosse Gesprächsthema. «Schon wieder ein neuer Schlitten? Hoffentlich alles legal! Sonst wird es nachher eng für dich.» Die Kicker lachen sich schlapp. Im Trainingsanzug und bepackt mit Sporttaschen, schlendern die fünf jungen Männer über den halbleeren Parkplatz der Justizvollzugsanstalt.
Was auf den ersten Blick entspannt aussieht, ist für die Truppe aus der Nationalliga B alles andere als ein gewöhnliches Auswärtsspiel. Die zehn Meter hohe Sicherheitsmauer aus massivem Beton, der Stacheldraht und die Kameras lassen es erahnen: Gleich bekommen es die Sportler mit richtig schweren Jungs zu tun.
Entsprechend akribisch geht die Sicherheitskontrolle am Eingang vonstatten. Nachdem jeder einzeln eine Sicherheitstür passiert hat, müssen sich die Besucher ausweisen. Nur angemeldete Personen, welche eine Hintergrundprüfung bestanden haben, erhalten einen gelben Passierschein. Handys und Aufnahmegeräte müssen draussen bleiben. Auch die Kamera ist wie alle auswärtigen Datenträger auf dem Gefängnisareal strikt verboten. Die Fotos für diesen Artikel erstellt ein Gefängnisangestellter.
Es folgt der Gang durch einen Metalldetektor und bei der letzten Zutrittsschleuse zeigt sich, dass Hightech auch in der fast 150 Jahre alten Strafanstalt Einzug gehalten hat. Andreas Ramseier, Leiter Bildung und Freizeit, entriegelt das Schloss mit einem Blick in den Iris-Scanner. Die Prüfung der Netzhaut ist noch sicherer als diejenige eines Fingerabdrucks. Die Tür öffnet sich mit einem Zischen, ansonsten herrscht bedrückende Stille – willkommen hinter Gittern.
Für den 23-jährigen Jester-Spieler Dusan Filipovic ist der Knastbesuch eine Premiere. Seine vier Kollegen haben schon bei den zwei früheren Gastspielen Gefängnisluft geschnuppert. Obwohl der Schweizer mit serbischen Wurzeln gleich mit Mördern und Vergewaltigern auf dem Feld stehen wird, gibt er sich in den Katakomben der Strafanstalt betont lässig. «Man muss sich einfach im Griff haben, dann passt das schon.»
Präsident und Klubgründer Patrick Fischer springt heute als Goalie ein. Er lässt sich tiefer in die Karten blicken: «Vor und nach dem Spiel diskutieren wir in der Kabine schon ziemlich intensiv darüber, was unsere Gegner wohl auf dem Gewissen haben. Auf dem Feld müssen wir den Gedanken daran beiseite schieben.»
Mit ihren giftgrünen Trikots spielen sich die Jester-Kicker in der engen Turnhalle durch gepflegte Pässe warm. Wenn es hier drin ein Messer gäbe, könnte man wohl die Luft damit schneiden. Der Blick zur Decke zeigt warum. Obwohl die Oberfenster vergittert sind, dürfen sie auf keinen Fall geöffnet werden. Absolute Sicherheit geht vor.
Jester 04 Baden hat die abgelaufene Saison in der Nationalliga B auf dem dritten Platz beendet. Viele der Spieler sind auch im normalen Rasenfussball aktiv. Was sie beim Aufwärmen in der Halle mit dem etwas schwereren Ball anstellen, sieht beeindruckend aus. Ihre Gesichter sind jetzt angespannt, die Zeit für Sprüche ist vorbei – gleich kommen die Gefangenen auf den Platz.
Kurz nach halb sechs ist es soweit. Man sieht sie noch nicht, aber hören kann man sie. Aus dem Treppenhaus tönt Gepolter und unverständliches Geschrei. Zeit, noch einmal tief durchzuatmen.
Eigentlich sollen die begangenen Verbrechen bei diesem Sportanlass kein Thema sein. Aber gleich der erste Häftling, welcher sich durch den Türrahmen schiebt, ist schlicht zu prominent. In rosaroten Kickschuhen und mit einem himmelblauen Napoli-Trikot von Gökhan Inler mit der Nummer 88 bekleidet, betritt ein Mörder das Feld, dessen Fall vor einigen Jahren in der ganzen Schweiz für Aufsehen gesorgt hat. Auch die Spieler von Jester erkennen sein Gesicht. Die Stimmung ist verkrampft.
Die zehn Gefangenen brechen den Bann und stürmen das Feld unter ohrenbetäubendem Gejohle. Es sind ein paar ganz schwere Brocken dabei. Auf den ersten Blick lassen sich zwei Schweizer ausmachen, einer trägt ein Nati-Trikot. Den Rest der Truppe bilden hauptsächlich Kosovo-Albaner und Türken. Mit voller Wucht pfeffern sie die Bälle ins Netz oder an die Wand. Jester-Kicker Luca Fischer, mit 1,62 Meter und 50 Kilo eher der Typ Filigrantechniker, rückt seine Brille zurecht. Ausgerechnet heute war der Kontaktlinsenvorrat des 20-Jährigen zu Ende.
Schnell wird klar, dass die Insassen ein temperamentvoller Haufen sind. Der Vollzugsangestellte Hanspeter Schär leitet das Futsal-Angebot in seiner Freizeit. Er gibt sich alle Mühe, die Gefangenen zur Ruhe anzuhalten. Aber deren Vorfreude und Anspannung über die anstehende sportliche Herausforderung entlädt sich immer wieder in wildem Geschrei und angeregten Diskussionen. Feierlicher wird die Stimmung erst beim Wimpeltausch.
Beim ersten Match zwischen den zwei Gefangenen-Mannschaften ist es einem als neutraler Beobachter noch mulmig zumute. Zwar halten sich Team Gelb und Team Weiss streng an die Regeln des weitgehend körperlosen Futsals - sobald aber eine Aktion missglückt, oder man ein Gegentor kassiert, wird wild auf Albanisch und Türkisch durcheinander diskutiert. Scherzhaft oder nicht, da möchte man nicht unbedingt dazwischen geraten. Noch lange nach Abpfiff der zehnminütigen Partie plänkeln die Verlierer auf der Bank. Schuld will niemand gewesen sein. Wissen die Freizeit-Kicker, worauf sie sich da eingelassen haben?
All diese Sorgen erweisen sich als unbegründet, als sich die Gefangenen zum ersten Mal mit Jester 04 Baden messen. Vom Grümpelturnier bis zur Champions League sind im Fussball versteckte Fouls und verbale Provokationen an der Tagesordnung. Das Futsalduell in Lenzburg erinnert dagegen fast schon an einen Besuch in der Sonntagsschule. Trashtalk? Fehlanzeige. Hartes Spiel? Vergessen Sie es.
Nach einem unglücklichen Zusammenprall helfen sich zwei Spieler gegenseitig auf. Handshake, Schulterklopfen, weiter geht es. Der Sport schafft es hier, einen vergessen zu lassen, welche Hälfte der Akteure zu gefährlich für die restliche Gesellschaft ist. Jester 04 Baden gewinnt überlegen mit 7:1. Die Fairness, auch gegenüber dem Schiedsrichter, bleibt trotzdem bis zum Schlusspfiff schon fast absurd gross.
Jesters Goalgetter Steven Jankovski bestätigt den Eindruck nach dem ersten Sieg: «Das ist kein Vergleich zu unseren normalen Spielen. So fair ist es sonst wirklich fast nie. Das liegt natürlich auch daran, dass wir viel Respekt vor ihnen haben.»
So nimmt das Turnier über sieben Spiele seinen Lauf. Einmal schnuppern die Gefangenen an der Sensation und bringen Jester 04 Baden an den Rand einer Niederlage. Die Insassen am Spielfeldrand peitschen ihre Kollegen mit lautstarken Anfeuerungsrufen nach vorne. Das wäre ein Ding, womit man vor den restlichen 110 Häftlingen ein ganzes Jahr lang angeben könnte. Am Ende reicht es nicht ganz. Team Weiss holt ein bemerkenswertes 3:3.
Nach einem Foul durch einen Jester-Spieler kommt zwischenzeitlich doch noch kurz Unruhe auf. Die vernarbten Schienbeine des getroffenen Insassen und seine hochgezogene Hose lassen vermuten, dass er schon die eine oder andere Runde im Kickboxring hinter sich gebracht hat. Er rappelt sich auf und stapft breitbeinig auf seinen Gegner zu – nur um in schallendes Gelächter auszubrechen und ihm auf die Schulter zu klopfen. Die Gäste aus Baden atmen auf.
Jester 04 Baden gewinnt die Schlusswertung standesgemäss klar. Auch im Final spielen die Gäste ihre technische und taktische Überlegenheit aus. Einen überraschenden Punktsieg landen sie zusätzlich in einem anderen Bereich. Entgegen aller Hollywood-Klischees sind nur zwei von zehn der Knast-Futsaler sichtbar tätowiert. Bei den Jester-Kickern trägt über die Hälfte der Mannschaft solchen Körperschmuck spazieren. Damit wird an diesem Abend ein weiteres Vorurteil ramponiert.
Nach dem letzten brüderlichen Handshake bleibt man als Beobachter fast schon fassungslos zurück. Das war es jetzt? Kann Knast-Futsal mit Schwerverbrechern immer so reibungslos und friedfertig sein? Schiedsrichter Peter Grossmann muss es wissen. Er pfeift seit 20 Jahren gegen eine kleine Aufwandsentschädigung Spiele im Lenzburger Strafvollzug. Abgesehen von einem prallen Kugelbauch ist der 68-jährige körperlich schon fast unanständig fit. Seine Antwort leitet der braungebrannte Pensionär mit schallendem Gelächter ein: «Wissen Sie, ich habe hier ja einen Notknopf. Wenn ich den drücke, sind sofort vier bis fünf Vollzugsangestellte da. Den musste ich in all den Jahren genau ein einziges Mal benutzen, als sich zwei Häftlinge an den Kragen gingen. Ansonsten reicht es immer, wenn man sie zwei Minuten zum Abkühlen schickt. Wichtig ist, dass man ihnen klare Grenzen setzt.»
Sport im Gefängnis ist ein Privileg. Die Gefangenen erhalten eine Freizeitkarte, welche sie für die Beschäftigung ihrer Wahl einsetzen können. Neben diversen Sportarten sind auch Sprachkurse und eine Theatergruppe im Angebot. Wer sich nicht an die Regeln hält oder unentschuldigt fehlt, verliert seine Karte und damit auch den Anspruch auf das Freizeitprogramm.
Wie schlimm diese Bestrafung für sie wäre, zeigt sich im Gespräch mit den Gefangenen. Behram, ein früh ergrauter, zurückhaltender Kosovo-Albaner, sitzt seit zwei Jahren in Lenzburg seine Strafe ab. 17 Monate hat er bei guter Führung noch vor der Brust. Er sagt: «Das war heute ein wunderschönes Gefühl. Endlich konnten wir wieder einmal mit normalen Menschen zusammen sein. Leider waren wir zu schwach, wir haben zu wenig Kondition. Es hilft halt auch nicht, wenn man wie ich 20 Zigaretten pro Tag wegpafft.» Behram erzählt, dass er während des Futsals manchmal sogar vergesse, wo er ist. «Aber nach dem Spiel geht es zurück in die Zelle. Die ist sieben Quadratmeter gross und dann ist alles wieder doppelt so schlimm. Draussen könnte man nach dem Spiel gemeinsam feiern – das wäre schön.»
Ishak ist seit dreieinhalb Jahren in Lenzburg inhaftiert. Bald darf er die Strafanstalt unter Bewachung zum ersten Mal für einen Tag verlassen. Nach dem Futsal-Event ist der schwere Junge völlig aufgelöst: «Das war richtig geil! Ich bin mega froh, dass sie eine Mannschaft gefunden haben, die gegen uns spielen will. Mega, mega froh! Das gibt mir Hoffnung für ein Leben nach dem Knast.» Vielleicht will er sich dann bei Jester 04 Baden melden. «Das wäre schon was. Bis dahin werde ich mich an diesen Abend erinnern. Wir können Fotos für einen Franken das Stück bestellen. Da schlage ich sicher zu!»
Schon draussen in seinem alten Leben hat Ishak den Fussball geliebt: «Ich habe zusammen mit Izet Hajrovic bei den Junioren vom FC Windisch gespielt. Wir waren ein unschlagbares Sturmduo.» Hier der verurteilte Kriminelle, da der umjubelte und hochbezahlte Fussballstar. Beide hatten sie als Kinder, zumindest sportlich, die gleiche Ausgangslage. Warum spielt Ishak heute Knast-Futsal während Izet mit Galatasaray Istanbul die Champions League aufmischt? Das Lachen verschwindet aus seinem Gesicht. Ishak denkt lange nach, während er den Spielern von Jester 04 Baden nachsieht, welche gerade die Halle verlassen. «So läuft eben das Leben», sagt er schliesslich – und macht sich auf den Weg zurück in seine Zelle.