Als er an diesem Tag im Frühling 2007 an sein Handy geht, versteht Philipp Degen nur Bahnhof. «Der Mann sprach Französisch, nicht gerade meine Stärke.» Also reicht er das Handy an Zwillingsbruder David weiter. Als dieser ihm wenige Minuten später erklärt, wer da gerade angerufen habe, muss sich Degen erst einmal setzen. Rafael Benitez, Trainer des FC Liverpool, hat seinen engsten Mitarbeiter damit beauftragt, bei Degen das Interesse an einer Verpflichtung zu platzieren. «So hat alles angefangen, ein Jahr später war ich Liverpool-Profi.» Degen steht damals bei Borussia Dortmund unter Vertrag, auch keine schlechte Adresse. «Aber Liverpool? Diese Chance konnte ich mir nicht entgehen lassen – niemals!»
Die Augen von Philipp Degen leuchten, wenn er über die drei Jahre bei den «Reds» spricht. Obwohl man verstehen würde, wenn ihm beim Gedanken an Liverpool zum Heulen zumute wäre. Leisten-, Rippen- und Fussbrüche, ein Loch in der Lunge, Muskelbeschwerden – von 111 Pflichtspielen, die er theoretisch hätte bestreiten können, verpasste er 98. Auch eine Ausleihe nach Stuttgart zu Ziehvater Christian Gross endete im Desaster: Pfeiffersches Drüsenfieber, nur 9 Einsätze.
Heute sagt Degen: «Die Zeit in England hat mich zu einer Persönlichkeit gemacht.» Er hat regelmässigen Kontakt mit Martin Skrtel, der noch heute bei Liverpool spielt, telefoniert oft mit Freunden, die er abseits vom Fussball kennengelernt hat. Seit der Vertragsauflösung 2011 und der Rückkehr nach Basel war er nicht mehr in der Hafenstadt im Nordwesten Englands. «Aber ich habe schon lange vor, wieder mal hinzufliegen, um alte Kumpels zu treffen.»
Das mit dem Kumpels-Treffen wird schwierig, wenn er morgen mit dem FCB das Flugzeug nach Liverpool besteigt, wo er am Dienstag gegen seinen Ex-Klub um den Einzug in die Achtelfinals der Champions League spielt. «Ich kenne im Stadion alle Gänge, jede Türe. Es wird eine ganz spezielle Partie für mich, die Emotionen werden hochkommen. Aber», und das betont er energisch, «es geht nicht darum, den Menschen in Liverpool zu beweisen, was ich tatsächlich kann. Es geht um den FC Basel. Wenn wir uns von der gewaltigen Atmosphäre nicht unterkriegen lassen, haben wir eine grosse Chance.»
«Mein erstes – und für lange Zeit letztes – Spiel an der Anfield Road bestritt ich am 23. September 2008. Wir spielten im Carling-Cup gegen Crewe Alexandra. Nach 70 Minuten gehe ich ins Kopfballduell. Der Gegenspieler, eine Postur wie ein Kleiderschrank, springt mit dem Knie voraus. Ich höre es knallen, die Rippe ist durch. Ich bin umgefallen wie ein Mehlsack. Als ich vom Platz getragen werde, klatschen die Leute. Schade – bis dahin habe ich ein gutes Spiel gemacht. Es ist speziell, wie nah die Leute am Feld sind. «Come on guy, fight», rufen sie, wenn du vorbeirennst. Die Mannschaftskabinen sind so angelegt, dass nur die Gästespieler vor dem Anpfiff die Hymne «You'll never walk alone» hören. Ein Ex-Profi von Liverpool hat gesagt: ‹Viele Mannschaften verlieren an der Anfield Road bereits im Spielertunnel›. Ich kann ihm nur zustimmen.»
«Die Tragödie von 1989 ist in Liverpool omnipräsent. Überall wird an die 96 Todesopfer erinnert. Jedes Jahr am 15. April findet ein Gottesdienst im Stadion statt, an dem die Mannschaft geschlossen teilnimmt. Alle singen und gedenken der Opfer. Diese Emotionen haben mich jedes Mal sehr berührt. Die Stimmung ist ergreifender als an Spieltagen, Spieler und Fans sind sich in diesem Moment sehr nah. Ansonsten ist der Umgang mit den Fans distanzierter als in der Schweiz. In England gibt es keine Autogrammstunden, die Spieler müssen keine Sponsorentermine wahrnehmen. Ein Betreuer hat mir mal gesagt: Das Trainingsgelände ist nur für Klubangestellte da. Wer die Spieler sehen will, soll ins Stadion kommen.»
«Ich hatte eine wunderschöne Penthouse-Wohnung im Sefton-Park. Als ich nach Liverpool kam, war sie bereits komplett eingerichtet. Mein Nachbar war Javier Mascherano, wir haben uns auf der Playstation epische Duelle geliefert. Die Fahrt im Auto zum Stadion oder zum Trainingsgelände war jedes Mal ein Erlebnis. Sie führt mitten durch die typischen Reihenhäuser und das Armenviertel, überall hingen Fahnen. Während ich verletzt war, musste ich mir oft in den Hintern treten, um nicht auf dem Sofa zu versauern. Mit den Teamkollegen habe ich mich in der ‹Newz-Bar› getroffen. In England lauern überall die Paparazzi, die Mitspieler haben mich schon am ersten Tag gewarnt. Zum Glück war ich für die Fotografen kein interessantes Sujet – sie interessierten sich nur für Steven Gerrard und Fernando Torres. Die beiden konnten keinen Schritt machen, ohne fotografiert zu werden.»
«Mein Lieblingsort in Liverpool war der Safari-Park, zehn Minuten ausserhalb vom Stadtzentrum. Ein- bis zweimal im Monat bin ich dahin gefahren. Am meisten dort war ich in der Zeit, in der ich verletzt war – und das war leider nicht wenig. Der Safari-Park ist ein Zoo, den man mit dem Auto durchqueren kann. Nichtsahnend fährt man rein – und plötzlich schaut ein Löwe ins Auto! Weltklasse! Es hat auch Affen, Elefanten, Giraffen und alle kommen den Menschen ganz nah. Diesen wilden Tieren zuzuschauen, hat mich einfach bewegt. Einen solchen Zoo mit riesigem Auslauf für die Tiere wünsche ich mir auch in der Schweiz. Ich mag Tiere sehr, im Safari-Park habe ich mich wie in einer anderen Welt gefühlt.»
«Das Trainingscenter, der Melwood-Trainings-Ground, lag etwa zehn Minuten von meiner Wohnung entfernt. Eine Anlage der Spitzenklasse: Hightech-Fitnesscenter, sensationelles Essen in der Kantine, jeder Spieler hat ein Einzelzimmer für Ruhepausen. Wir mussten jeweils morgens um 9 Uhr dort sein. Wer wollte, frühstückte noch, um 10 Uhr begann das Training. Danach konnte jeder über seine Zeit verfügen. Ich habe gespürt, dass ich bei einem Topklub bin: Die familiäre Atmosphäre wie hier in Basel kommt bei solchen Vereinen nicht auf. Es ist alles hochprofessionell. Man kommt ins Training, gibt Vollgas und verabschiedet sich wieder.»
«Er ist ein Leader, ein natürliches Vorbild, ein Gentleman. Steven prägt den Klub seit fast zwei Jahrzehnten. Er ist keiner, der dauernd redet. Wenn er jedoch etwas sagt, hat er die volle Aufmerksamkeit. An meinem ersten Tag kam er auf mich zu, begrüsste mich und sagte, ich könne jederzeit zu ihm kommen, wenn ich etwas brauche. Ich treffe ihn immer in den Sommerferien auf Ibiza. Wir tauschen uns länger über Gott und die Welt aus. Wir haben zwar keinen regelmässigen Kontakt; aber jedes Mal, wenn wir uns treffen, gehen wir wie Freunde miteinander um. Das Gleiche mit anderen Menschen, die noch im Klub sind. Als Liverpool im Oktober in Basel war, habe ich etwa Graham, den Materialwart, getroffen, wir haben uns herzlich umarmt. Graham ist ein wahrer Monsieur: Dem hast du die Schuhe hingestellt, am nächsten Tag standen sie perfekt geputzt und gefettet im Kabinenspind.»