Die digitalen Augen sind auf die Männer in St. Petersburg gerichtet. Im Bauch der Gazprom Arena wartet ein noch immer jung wirkender Xherdan Shaqiri mit Nationaltrainer Vladimir Petkovic auf die Fragen zum grössten Fussballspiel der Schweiz seit Menschengedenken. Bald einmal rückt Shaqiri in den Fokus und sagt: «Es ist purer Stolz, dass ich die Mannschaft in eine solche Partie führen darf. Aber ich werde derselbe Xherdan sein, ich verstelle mich nie. Weil ich schon immer Verantwortung übernommen habe. Und weil ich immer versuche, meine Leistung auf dem Platz abzurufen und dem Team zu helfen.»
Es ist das grösstmögliche Lob für diese Schweizer Nationalmannschaft: Man traut ihr nun alles zu, sogar den Einzug in den Final. Ähnlich, auch bezüglich Lob, verhält es sich seit einer Ewigkeit bei Shaqiri: Man traut ihm alles zu. Ihm, dem 29-jährigen Schweizer mit kosovarischen Wurzeln.
Diese Wurzeln bescheren ihm eine zufriedene Kindheit in eher ärmlichen Verhältnissen, als die fünfköpfige Familie kurz nach der Geburt des dritten Sohnes Xherdan und längst vor dem Balkankrieg nach Augst BL auswandert. Später kommt noch eine Schwester hinzu und Shaqiri wird einmal sagen: «Unser Haus hatte keine Heizung, nur ein grosses Cheminée. Es war ein wirklich altes Haus auf einem Bauernhof in Basel.»
Die Familie muss hartes Brot essen, die Eltern krampfen, der Vater als Tellerwäscher und irgendwann im Strassenbau, die Mutter als Putzfrau. Weil sie das verdiente Geld in die Heimat schicken, ist nicht viel übrig zum Leben in der teuren Schweiz. Taschengeld gibt es selten, einmal reichen die Finanzen nicht für ein Trainingslager, die Brüder helfen mit Gelegenheitsjobs.
Denn Fussball spielen will der kleine «Xherdi», wie sie ihn nennen, der Bub schliesst sich schon mit vier Jahren dem SV Augst an. Und er ist nicht einmal zehn, als er zum FC Basel kommt. Munter geht es weiter, beim Nike-Cup 2007 in Prag ist er der beste Spieler des Turniers. Im Januar 2009 gibt es den ersten Profivertrag, aus der Medienmitteilung lässt sich die Weltkarriere noch nicht herauslesen: «Der FC Basel freut sich, dass er mit einem weiteren Talent aus seiner eigenen Nachwuchsabteilung eine längerfristige Zusammenarbeit vereinbaren konnte. Der Verein hat einen Profivertrag mit dem 17-jährigen Mittelfeldspieler Xherdan Shaqiri unterzeichnet. Der Kontrakt mit dem Schweizer Nachwuchsinternationalen hat eine Gültigkeit von vorerst drei Jahren bis am 31. Dezember 2011.»
Im März 2010 debütiert Shaqiri 18-jährig unter Trainer Ottmar Hitzfeld im Nationalteam gegen Uruguay. Er darf mit an die WM nach Südafrika, kommt dort aber nicht zum Einsatz. Nicht wie an den Turnieren 2014, 2016, 2018 und jetzt, wo er jeweils Glanzpunkte setzt. Gegen Honduras in Brasilien nach heftiger Kritik mit einem Dreierpack, gegen Polen in Frankreich mit einem Seitenfallzieher für die Ewigkeit, gegen Serbien in Russland mit dem Last-Minute-Tor im politisch aufgeladenen Spiel. Und an dieser Euro mit zwei Treffern gegen die Türkei, welche die Schweiz im Turnier halten.
Shaqiri wird für den FC Basel bald einmal zu gut und zu gross, über seinen Bruder Erdin, der ihn zugleich berät, wechselt er im Sommer 2012 als 21-Jähriger für 12 Millionen Euro zu den grossen Bayern. Er wird mehrmals deutscher Meister, gewinnt die Champions League, durchsetzen kann er sich aber nicht, und je länger das Engagement dauert, desto unzufriedener ist er mit seiner Situation. Im Januar 2015 macht Shaqiri deshalb den Abstecher nach Mailand, bei Inter kann Trainer Mancini mit ihm nichts anfangen. Heuer an diesem Turnier lobt derselbe Mancini als Italien-Coach den kreativen Angreifer zwar und sagt, es sei damals einfach der falsche Zeitpunkt bei Inter gewesen.
Also wechselt Shaqiri ein halbes Jahr später wieder, dieses Mal nach Stoke ins geografische wie sportliche Niemandsland. Hier bleibt er drei Jahre lang und steigt am Ende mit dem Klub ab, zeigt grundsätzlich gute Leistungen. An der WM 2018 soll er der Spieler mit dem grössten BMI-Wert sein, sowieso tauchen die Fragen zu seiner Gesundheit nun vermehrt auf, zu seiner Ernährung, weil er sich oft mit Muskelverletzungen herumschlägt. Fragen, die Shaqiri überhaupt nicht mag.
2018 wechselt er mit dem nächsten hoch dotierten Vertrag für etwa 15 Millionen Euro zu Liverpool, wieder gewinnt er die Champions League und die Meisterschaft, wieder wird er nie Stammspieler und ist oft verletzt. Einmal verpasst er während 16 Monate die Länderspiele der Schweiz, die Stimmung zwischen ihm und dem Nationalteam wirkt aufgeheizt, weil es «mentale Probleme» und Friktionen zwischen Spieler und Trainer geben soll.
Shaqiri ist so viel für den Schweizer Fussball, ein Versprechen für die Zukunft, der Zauberzwerg, der Kraftwürfel. Und das Jahrhunderttalent, das nach schlechten Spielen am härtesten kritisiert wird. Weil man eben von ihm immer alles erwartet. Vor allem ist er bis heute der Liebling der Kinder, sie verehren ihn. Auf Instagram hat Shaqiri mit 2,6 Millionen die meisten Follower der Schweizer Fussballer, die Werbewirtschaft spannt ihn früh vor ihren Karren für allerlei Produkte (Coca-Cola, Arosa), er wird zur lebenden Litfasssäule. Und wer so viel herumgereicht wird und nie eine Freundin hat, kann ob all der Folklore den Fokus schon einmal verlieren. Davon will Shaqiri allerdings niemals etwas wissen, vielmehr erwidert er jeweils ganz selbstbewusst: «Ich bin schon der Spieler, der den Unterschied ausmachen kann, das habe ich schon oft bewiesen.»
Und jetzt führt der kleine Xherdi von damals, der Posterboy der Kinder, der «Golden Boy» der Schweiz, der heute mit dem Lamborghini herumfährt und der Familie längst ein besseres Leben ermöglicht, die Schweiz in den Viertelfinal gegen Spanien. Er tut das als Captain, weil Granit Xhaka gesperrt ist. Es ist Shaqiris 96. Länderspiel, und die Hoffnung ist erneut da, dass er wieder einmal über sich hinauswächst – im und für den grössten Auftritt seines Lebens.
Früh pressen, immer stören, immer unangenehm sein, füreinander da sein...
Dann wird das schon!!
HOPP SCHWIIIIZ!!
tönt besser als muss, nicht wahr? Das ist der Unterschied zwischen Flow und Druck.
Er wird!
🎉