An der muslimischen Minderheit der Uiguren wird ein Ethnozid verübt, Menschenrechte missachtet, die freie Meinungsäusserung unterdrückt, religiöse und politische Minderheiten verfolgt, das Internet zensiert. Zu alledem sagt das Internationale Olympische Komitee IOC: nichts.
Dessen Chef, Thomas Bach, sagt immer wieder: «Wir sind keine Weltregierung, die dafür Sorge tragen kann, dass ein souveränes Land Gesetze verabschiedet und bestimmte Standards einhält.» Das sei «Aufgabe der Politik.» Die Verantwortung des IOC beziehe sich auf die Olympischen Spiele.
Die Tennisszene diskutiert seit Wochen besorgt, was aus Peng Shuai geworden ist, weshalb sie seit fast zwei Jahren keine Turniere mehr spielt, vor allem aber: Was mit ihr geschehen ist und noch geschehen mag, nachdem sie den früheren Vizepremier Chinas, Zhang Gaoli, in einem mutmasslich von ihr im Internet veröffentlichten und rasch zensierten Beitrag des sexuellen Missbrauchs beschuldigt hatte. Peng schrieb dort:
Und was tat das IOC angesichts des Hilferufs einer dreimaligen Olympia-Teilnehmerin? Was tat Thomas Bach, als ehemaliger Florettfechter ein Meister im Ausweichen und Fintieren, immer im Dienst der Bewegung? Schweigen. Wie Kirsty Coventry, die Leiterin der Athletenkommission.
Erst, als ein chinesisches Staatsmedium ein angebliches Statement von Peng veröffentlichte, in dem sie behauptete, wohlauf zu sein und man möge sie doch bitte in Ruhe lassen, liess Bachs IOC ausrichten: «Wir sind ermuntert von den Versicherungen, dass sie wohlauf ist.» Man tausche sich mit den Tennisverbänden aus und «beobachte» die Situation aufmerksam.
Während Verbände, allen voran die WTA, die Profiorganisation der Frauen im Tennis, Menschenrechtsorganisationen, Sportler und Diplomaten eine lückenlose und transparente Aufklärung der Vorfälle fordern, lässt sich das IOC von den dilettantisch inszenierten Nebelpetarden der Chinesen (Pengs Schreiben begann mit der Zeile «Hallo, ich bin Peng Shuai») abspeisen.
Und dieses IOC will nun den Beweis erbracht haben, dass alles in Ordnung sei, indem man sich für ein 30-minütiges Videogespräch zwischen Peng und Bach instrumentalisieren liess, über dessen Inhalt nicht mehr bekannt ist, als dass man ausgemacht habe, sich im Januar in Peking zum netten Abendessen zu treffen, wenn Bach zu den Olympischen Spielen anreist?
Weshalb das so war? Weil China und das IOC Interessen teilen: sie wollen schöne, prächtige und möglichst selbstinszenierte Bilder von Wettkämpfen und keine störende Begleitmusik von den Olympischen Spielen in Peking. Das IOC generiert praktisch seine gesamten Einnahmen aus dem Verkauf der TV- und Sponsoringrechte. Im letzten olympischen Zyklus, der die Winterspiele 2014 in Sotschi und die Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro umfasste, löste es 5,16 Milliarden Dollar. Menschenrechte? Die Wahrung der sexuellen Integrität Pengs? Die Aufklärung der Vorwürfe? Kein Thema.
Am Samstag war ein Video aufgetaucht, das Peng in einem Restaurant in Peking zeigt. Ein Mann sagt: «Morgen ist der 20. November», wird aber sofort von einer Frau in der Runde korrigiert, dass dann der 21. November sei – und damit Sonntag. Peng nickt und schweigt. Die «Süddeutsche Zeitung» schrieb: «Es hat etwas von einem Entführervideo, in dem eine Tageszeitung hochgehalten wird, zum Beweis, dass die Geisel noch lebt.»
Wohl nichts anderes als das ist Peng Shuai: eine Geisel des Staatsapparats. Nicht in einem Gefängnis eingesperrt, aber unterdrückt, in der ständigen Angst vor Repressalien. Ihr droht ein Leben im Hausarrest, wie das zuvor schon der 2017 verstorbene Friedensnobelpreisträger Liu Xiaobo, oder Jack Ma, der Gründer der Handelsplattform Alibaba, erlebt haben.
Thomas Bach hat der Geiselnahme Pengs mit seinem Telefonat, das mehr der Selbstinszenierung diente, noch Vorschub geleistet und die Sportlerin verraten. Bis zum heutigen Tag hat das IOC China nicht dazu aufgefordert, die Vorwürfe der sexuellen Misshandlung aufzuklären und die Zensur zu beenden. Die internationale Gemeinschaft lässt damit eine Gelegenheit verstreichen. Denn für das chinesische Regime liegt die Brisanz des Falls darin, dass er sich an einer Schnittstelle von geschlossener Gesellschaft und Weltöffentlichkeit abspielt, an der Totschweigen nicht mehr hilft.
Doch statt maximalen Druck aufzubauen, eine Untersuchung zu fordern und Veränderungen zu verlangen, macht das IOC den Bückling vor China - weil man sich im Würgegriff von Tyrannei und Kommerz befindet. Dass China sich nicht ändern wird und die Olympia-Fassade missbraucht, um vor den Augen der Weltöffentlichkeit ein Pfauenrad zu schlagen, hat sich schon 2008 bewahrheitet, als man Gastgeber der Sommerspiele war.
Die Versprechungen einer Öffnung des Landes und einer Liberalisierung haben sich als Lippenbekenntnisse entpuppt. Und auch die vom IOC oft formulierten Hoffnungen, Olympische Spiele könnten Despoten zu mehr Offenheit, Rechtsstaatlichkeit, Achtung von Menschenrechten und Meinungsfreiheit oder Toleranz verleiten, haben sich nicht bewahrheitet.
Von dieser Schmierenkomödie nicht abspeisen liess sich die Women's Tennis Association WTA. Deren Chef Steve Simon richtete aus, er habe Zweifel daran, dass Peng die Absenderin des Schreibens sei und dieses ohne Druckversuche entstanden sei. Und er drohte, das Frauentennis werde sich aus China zurückziehen, wenn die Vorwürfe nicht untersucht würden und er persönlich versichert bekomme, dass es Peng gut gehe.
10 der 54 jährlich veranstalteten WTA-Turniere finden in China statt, das Vorgehen Simons darf angesichts der wirtschaftlichen Abhängigkeit des Frauentennis als bemerkenswert betrachtet werden. Andererseits steht die WTA in der Tradition der sozialen Gerechtigkeit, ist sie doch in den 70er-Jahren aus dem Bestreben entstanden, Frauen und Männer gleichzustellen.
Nun: Peng Shuai lebt. Doch vermutlich zahlt sie für ihre Äusserungen einen hohen Preis. Auch deshalb, weil das Internationale Olympische Komitee und Präsident Thomas Bach sich von China instrumentalisieren lassen.
WTA-Chef Steve Simon ist ein Lichtblick. Hoffentlich bleibt er bei seiner aktuellen Haltung.
Thomas Bach: "Hold my Bier".