Nicola Spirig, Sie haben bei Olympischen Spielen schon Gold und Silber gewonnen, gehen Sie deshalb gelassener an den Start, oder sagen Sie sich, dass es mit 39 Jahren die letzte Chance ist?
Nicola Spirig: Ich sollte gelassen sein, aber ich bin immer noch nervös. Das brauche ich auch, um meine beste Leistung abrufen zu können. Die Nacht vor dem Rennen ist immer schrecklich. Deshalb ist es für mich wichtig, am Tag des Wettkampfs einen klaren Ablauf zu haben, damit ich nicht zu nervös werde und unnötig Energie verbrauche. Der Startschuss ist dann wie eine Erlösung. Ab dann kann ich agieren.
Welche Rolle spielt es, dass das Rennen wegen der klimatischen Bedingungen in Tokio bereits um 06.30 Uhr morgens beginnt?
Für mich ist es normal, bereits um 07.00 Uhr am Morgen ein hartes Training zu absolvieren. Zudem bin ich erst am Freitag angereist und bin am Samstag um 04.30 Uhr aufgestanden. Am Samstag ging ich wieder sehr früh zu Bett und stand am Sonntag wieder um 04.00 Uhr auf. Ich habe mich gar nicht erst an die japanische Zeit angepasst. Dazu kommt, dass es hier in Tokio schon sehr früh am Morgen hell ist. Man kommt nicht um 05.00 Uhr raus und denkt: Oh mein Gott.
Wie beurteilen Sie persönlich Ihre Vorbereitung?
Es lief alles sehr gut, schon den ganzen Frühling. Über 10'000 Meter lief ich eine neue persönliche Bestzeit, ich gewann im Weltcup und wurde Europameisterin. Ich habe jetzt die Gewissheit, dass es definitiv die richtige Entscheidung war, weiterzumachen. Ich bin noch einmal so fit, wie ich mir das gewünscht und vorgestellt hatte. Das ist ein tolles Gefühl.
Ihr Trainer, Brett Sutton, sagte anderthalb Monate vor den Olympischen Spielen, Sie seien zwar 39, aber so gut in Form wie eine 25-Jährige.
Ach, das sagt er immer (lacht). Solche Vergleiche sind schwierig, jede Vorbereitung ist anders. Wenn es heiss und feucht wird, wird es wichtig sein, am Ende noch Energie zu haben. Das Laufen wird nicht sehr schnell sein, aber auf den letzten fünf Kilometern muss man ein gutes Stehvermögen haben, wenn man um den Sieg mitkämpfen will.
Zählen Sie sich zu den Anwärterinnen auf den Sieg?
Ja und Nein. Es liegt nicht nur in meinen Händen. Es kommen etwa 15 Athletinnen für nur 3 Medaillen infrage und es wird schwierig. Aber wenn das Rennen einen gewissen Verlauf nimmt, dann habe ich eine Chance. Es ist sehr wahrscheinlich, dass eine Gruppe von 5,6 guten Schwimmerinnen sich absetzen wird. Für mich wird entscheidend sein, diese Gruppe auf dem Fahrrad möglichst schnell einzuholen.
Sie haben am Samstag die Rennstrecke besichtigen können. Welche Erkenntnisse konnten Sie daraus gewinnen?
Es gab keine Überraschungen, den Velokurs hatte ich schon sehr oft online auf Video angeschaut und habe ihn deshalb schon gut gekannt, obschon ich ihn noch nie gefahren bin. Was mich beschäftigt: Für den Renntag ist ein Taifun mit Windböen und Regen angesagt. Für mich war es deshalb wichtig, zu sehen, wo es dann Schwierigkeiten geben könnte. Dohlendeckel zum Beispiel, die bei Regen gefährlich sind.
Stimmt der Eindruck, dass Sie in diesem Jahr noch stärker als bei Ihren letzten Olympischen Spielen alles diesem Ziel untergeordnet haben?
Das würde ich so nicht sagen. In London war es diesbezüglich am extremsten, dort habe ich mich unglaublich akribisch vorbereitet. Dort hatte ich die zehn Rennen davor gewonnen und 13 Tage vor den Olympischen Spielen noch einen Halb-Ironman bestritten. Ich kann mich noch erinnern, dass ich damals vor einem Weltcup-Rennen in Madrid noch ein Schwimmtraining absolviert habe, als ein männlicher Athlet zu mir sagte: Aber du weisst schon, dass du morgen einen Wettkampf hast, oder? Für ihn war das völlig daneben (lacht). Nun sind die Umstände andere, weil ich eine Familie habe. Ich habe zwar Muskelkater, aber nicht vom Training, sondern weil ich mit meinem Sohn Yannis vor ein paar Tagen Tannzapfen geworfen habe (lacht).
Bei den letzten Olympischen Spielen konnte Sie die Familie begleiten, wie sehr schmerzt es, dass dies in diesem Jahr nicht möglich ist?
Natürlich stimmt mich das sehr traurig. Wie auch, dass einige gute Freunde, die bereits 2004 in Athen, 2008 in Peking, 2012 in London und 2016 in Rio de Janeiro da waren, nicht kommen können. Aber wir Athleten sollten auch dankbar sein, dass es überhaupt Olympische Spiele gibt und uns den Regeln so gut anpassen wie möglich.