La Vie en Rose – das Leben in Rosa – heisst das Lokal in Luzerns Innenstadt, in dem die 27-jährige Schützin Nina Christen schildert, wie der Olympiasieg in Tokio ihr Leben verändert hat. Ihre Welt war danach nicht nur rosa, sondern von Ungewissheit und der Frage geprägt: Wann kommt die Freude über den erfüllten Lebenstraum? In den ersten sechs Wochen, nachdem sie in Tokio Gold im Dreistellungskampf gewonnen hatte, wartete sie vergeblich darauf. Stattdessen kämpfte die Nidwaldnerin in dieser Zeit mit Antriebslosigkeit und innerer Leere. Die Diagnose: Post-olympische Depression. Erst in dieser Woche trainierte Christen wieder, wann sie wieder Wettkämpfe bestreitet, lässt sie aber noch offen. Elf Wochen sind seit ihrem Olympiasieg vergangen. Das Schlimmste habe sie hinter sich, sagt sie. Christen blickt wieder mit Zuversicht in die Zukunft.
Nina Christen, Anfang September haben Sie mitgeteilt, dass Sie an einer post-olympischen Depression leiden. Wie geht es Ihnen nun?
Nina Christen: Das ist eine schwierige Frage, weil es immer nur eine Momentaufnahme ist. Diese Woche war ich erstmals wieder in Magglingen beim Team. Der Plan war es, dass ich mittrainiere, um zu sehen, wie ich mich fühle, um dann zu entscheiden, ob ich im November am Weltcup-Final antrete. Ich musste mir aber eingestehen, dass es noch zu früh ist. Ich verspüre immer noch eine gewisse Leere. Grundsätzlich bin ich sehr viel dünnhäutiger, mache mir mehr Gedanken. Streitereien gehen mir sehr nahe. Und manchmal schmiede ich zu ambitionierte Pläne und merke dann bereits am Mittag, dass ich keine Energie mehr habe.
Sie haben sich entschieden, Ihre Depression offenzulegen. Was hat Sie zu diesem Schritt bewogen?
Ich war schon immer sehr offen im Umgang mit diesem Thema. Andererseits waren Mitte September die Schweizer Meisterschaften. Ich hatte mich zwei Wochen davor abgemeldet, weil ich gemerkt hatte, dass ich keine Lust auf diesen Rummel hatte. Viele haben gefragt: Wo ist Nina? Weshalb ist sie nicht da? Ich wollte kein Geheimnis daraus machen, wie es mir wirklich geht. Allerdings habe ich es etwas unterschätzt, was das alles ausgelöst hat. Viele haben nachgefragt und vielen musste ich sagen, dass ich im Moment keine Kraft für ein Treffen habe. Ich habe auch noch immer nicht wirklich begriffen, dass ich als Olympiasiegerin dermassen im Fokus stehe.
Für Ihr Bekenntnis, an einer post-olympischen Depression zu leiden, haben Sie sehr viel Zuspruch erhalten, vor allem aus dem Schiesssport. Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb das so ist?
Zunächst möchte ich sagen, dass mir nahe stehende Menschen sehr verständnisvoll sind und ich keine Probleme hatte, mich mitzuteilen. Sie geben mir das Gefühl, mich zu verstehen, das ist enorm wertvoll. Reaktionen habe ich aber nicht nur aus dem Schiessen erhalten. Viele Athletinnen erleben derzeit das gleiche wie ich, zum Teil sind sie in einer viel extremeren Situation als ich. Aber um Ihre Frage noch zu beantworten: Schiessen ist sehr monoton und belastend für den Kopf. Vielleicht liegt es auch daran. Aber wie schlimm eine Depression ist, hängt letztlich immer davon ab, wie du das selber empfindest.
Sie haben in Tokio Gold und Bronze gewonnen, als erste Schweizerin bei denselben Olympischen Sommerspielen in zwei Einzeldisziplinen eine Medaille. Können Sie sich inzwischen über diesen Erfolg freuen?
Das Problem ist, dass ich es noch immer nicht ganz begriffen habe. Ich habe deswegen angefangen, für mich aufzuschreiben, was ich alles unternommen habe, um das zu erreichen. Ich habe auch immer wieder versucht, den Final zu schauen und die Emotionen an mich heranzulassen. Und mich zu fragen: Was sind das für Emotionen. Es kommt langsam. Aber es ist nicht wie bei Belinda Bencic, die sich aus purer Freude auf den Boden geworfen hat.
Heisst das im Umkehrschluss, dass Sie sich Vorwürfe machen, weil Sie sich nicht so freuen wie andere und wenn Sie das nicht schaffen, ist ihr ganzer Lebensentwurf mit dem Ziel Olympiasieg bedroht?
Genau so ist es. Die Vorstellung bei Erfolg ist doch, dass man Freude verspürt, dass man glücklich ist, dass man nur Positives sieht. Ich dachte, wenn ich die Medaille gewinne, dann spüre ich, dass sich die Arbeit, die Mühe gelohnt hat. Aber bei mir war es einfach nicht so. Diese Vorstellung ist immer noch da, dass dieses Gefühl kommen müsste. Ich hatte gedacht, dass ich mehr Emotionen zulassen kann. Dass ich alles rausschreien kann. Dass Freudentränen fliessen und das Gefühl ein paar Tage anhält. Das war meine Vorstellung. Ich fragte mich: Weshalb freue ich mich nicht mehr?
Haben Sie eine Antwort darauf?
Damit habe ich am meisten Mühe. Zu wissen, das steht in der Zeitung und die Menschen lesen über mich, dass ich mich nicht zu hundert Prozent darüber freuen kann. Ich weiss genau, eigentlich sollte ich mich freuen, denn ich habe das geschafft, was ich mein Leben lang wollte. Aber ich bin noch nicht so weit. Die Erwartung ist immer noch, dass die Freude doch irgendwann mal kommen muss.
Wann haben Sie gemerkt, dass Sie Hilfe in Anspruch nehmen wollen?
Ich war von Anfang an in Betreuung von meinem Sportpsychologen und wir standen immer in Kontakt. Als wir nach seinen Ferien nach Tokio, das war drei Wochen nach den Spielen, telefoniert haben, hat er realisiert, dass ich unter starkem Stress stehe. Auch mein Freund hat realisiert, dass ich auf die kleinsten Impulse reagiere. Er sagte: Du musst reagieren. Du musst aufstehen. Du musst rausgehen. Aber ich habe mich geweigert. Ich war einfach viel zu erschöpft.
Sie haben kürzlich im Radio gesagt, Sie hätten gute und schlechte Tage. Wie sah ein schlechter Tag nach den Olympischen Spielen aus?
Ich kam morgens nicht mehr aus dem Bett, war negativ eingestellt, wütend und mit allem unzufrieden. Ich war antriebslos, ertrug ausser meinem Freund, mit dem ich zusammenwohne, nicht viele Menschen. Ich hatte einfach keine Energie, die ganze Geschichte zu erzählen. Und wenn man so erschöpft ist, hat, man eine kurze Zündschnur. Ein Beispiel: Als mir beim Kaffeekochen ein Glas runtergefallen ist, musste ich erst schreien und dann weinen, weil mich diese Situation dermassen genervt hat. Ich musste lernen, nachsichtig mit mir zu sein, mir zu verzeihen und keine Perfektion von mir zu erwarten.
Für uns Normalsterbliche ist schwer vorstellbar, welche extremen Emotionen Sie im Sport erleben. Fühlen Sie sich damit allein gelassen?
Mir fällt es einfach sehr schwer, diese Emotionen vor anderen zuzulassen. Ich habe in meiner ganzen Karriere daran gearbeitet, diese nicht rauszulassen, weil das schlecht ist für die Leistung. Emotionen steigern den Puls und das ist im Schiessen negativ.
Sie haben sich den Finaldurchgang bei ihrem Olympiasieg inzwischen mehrfach im Fernsehen angeschaut, wie war das?
Sehr aufwühlend. Ich fühlte wieder diese Emotionen und den Stress. Intuitiv habe ich diese Emotionen dann aber wieder unterdrückt, obwohl ich alleine war. Da musste ich mir irgendwann sagen: Mein Gott, das muss ich ja nicht sein. Aber als es vorbei war, war da nicht nur Freude, da waren ganz viele andere Gefühle: Ungewissheit, die Frage, was jetzt kommt. Wie ist es, wenn ich nach Hause komme?
Der Schiesssport steht selten im Mittelpunkt des Interesses, das war nach ihren beiden Medaillen anders. Waren Sie darauf vorbereitet?
Ich musste mir selber die Frage stellen, was ich machen will und was nicht. Aber Schiessen ist ein Randsport, da sagte ich mir: Wenn wir jetzt schon einmal die Chance haben, dass wir im Mittelpunkt stehen, muss ich alles machen, weil wir sonst sehr viel schneller wieder in Vergessenheit geraten. Deshalb habe ich viel gemacht. Zu viel. Dabei war die Energie schon am Ende, als ich in die Schweiz zurückkam.
Welche Befürchtungen hatten Sie bei der Rückkehr ins Training?
Dass ich nicht schiessen kann. Dass ich nicht bei der Sache bin. Wenn die Konzentration fehlt, ist das Sichtfeld eingeschränkt. Oder dass so starke Emotionen hochkommen, dass ich mir sagen muss: Jetzt muss ich aufs WC, um zu heulen. Das wäre das Heftigste, was ich mir vorstellen könnte. Oder dass die Stimmung im Team komisch ist. Nun war es so, dass ich zwar schiessen konnte, aber es hat mich innert kürzester Zeit enorm müde gemacht. Früher habe ich in drei Stunden bis zu 160 Schüsse abgegeben. Jetzt waren es noch 20, dann machte ich Pause, dann noch einmal 20. Und das war es dann bereits.
Haben Sie nun Möglichkeiten gefunden, diese Emotionen auszuleben?
Es gab inzwischen Momente, in denen ich es mir erlaubt habe, zu weinen. Meistens war das eine positive Erfahrung, auch wenn es die Probleme nicht löst. Doch es beruhigt und schafft Klarheit, um danach auch wieder mit kühlem Kopf Entscheidungen treffen zu können.
Zu welchen Erkenntnissen sind Sie in den letzten Wochen gelangt?
Seit 2012 war ich in einem Hamsterrad. Seit fünf Jahren bin ich Profi. Ich habe vieles aufgegeben. Ich habe mein gewohntes Umfeld verlassen und für meinen Traum auf einiges verzichtet. Neben dem Schiessen gab es in den letzten Jahren nicht viel in meinem Leben. Ich machte keine Ausbildung und habe über Jahre fast alles dem Sport untergeordnet. Ich machte nichts ausser Schiessen. Ich schaute nicht nach links und nicht nach rechts. Deshalb glaube ich, dass, das, was ich jetzt erlebte, nicht zu verhindern war, weil das einzige grosse Ziel, das ich im Leben hatte, jenes im Sport, plötzlich weg war.
Heisst das, Sie bereuen die Opfer, die Sie für ihren grossen Traum vom Olympiasieg gebracht haben und würden es heute anders machen?
Nein, das nicht. Das waren die richtigen Entscheidungen. Aber wenn ich zurückschaue, frage ich mich manchmal schon, ob ich es anders hätte machen können und ob der Ausgang ein anderer gewesen wäre.
Wie geht es nun für Sie weiter?
In der nächsten Woche habe ich wieder einen Termin mit meinem Sportpsychologen. Ich bereite mich sehr gewissenhaft auf die Themen vor, die wir besprechen. Anfang Dezember habe ich einen Termin mit meinem Teamchef, dann schauen wir, wann ich nach Magglingen zurückkehre. Ich mache mir Gedanken dazu, was ich in den letzten fünf Jahren gut fand, was ich in Zukunft will, und was ich nicht mehr.
Haben Sie schon konkrete Vorstellungen, was das sein könnte?
Ja, ich habe gewisse Ideen. Aber die sind noch nicht ganz spruchreif.
Kann man das, was Sie erleben, Zukunftsangst nennen?
Es ist eher die Ungewissheit, die mir zu schaffen macht. Ich habe vorher auf ein sehr konkretes Ziel hingearbeitet, nun habe ich sehr viel mehr Möglichkeiten. Das überforderte mich und ich habe mich noch nicht entscheiden können, wie es weitergehen soll. Aber ich hatte nie Angst, dass ich nicht mehr aus dieser Situation rausfinde.
Gibt es auch Positives, das Sie aus dieser Situation mitnehmen können, und was wünschen Sie sich persönlich für Ihre Zukunft?
Ich habe jetzt schon kleine Lichtblicke. Ich bin froh, dass ich die Zeit, in der ich nur negativ war, überwunden habe. Ich weiss, irgendwann habe ich all das hinter mir. Ich glaube daran, dass ich viele Erfahrungen daraus ziehen kann, die mich auch in meinem zukünftigen Leben voranbringen. Dass ich früher bemerke, wenn mir eine Situation entgleitet und ich dann Strategien habe, um damit umzugehen.
Sie sind jetzt doppeltes Vorbild: Eine Olympiasiegerin, die auch noch sehr offen über ein Tabuthema spricht.
So sehe ich mich nicht. Jeder kann in ein Loch fallen. Generell ist es ein Stigma, das bei psychischen Erkrankungen einfach da ist: dass es als Schwäche betrachtet wird. Dabei kann es jeden treffen. Für mich persönlich wünsche ich mir, dass ich wieder neue Ziele habe – im Schiessen, aber auch im zukünftigen Berufsleben. Was ich mir jetzt schon vornehme: Ich möchte spontaner leben. Ich will mir später nicht vorwerfen müssen, Dinge nicht gemacht zu haben, auf die ich eigentlich Lust gehabt hätte. Zum Beispiel spontan zu verreisen.