Es fehlte nur ganz wenig, und England wäre von Gelsenkirchen aus direkt ins Tal der Tränen abgebogen. In der 95. Minute, eine Minute vor dem geplanten Abpfiff, rettete Jude Bellingham die Nation vor dem Untergang. Filmreif bewerkstelligte der Superstar von Real Madrid dies, mit einem Fallrückzieher ins Glück.
Bellinghams Treffer zum 1:1 war einerseits der verdiente Lohn dafür, dass England sich nach dem Pausen-Rückstand in der zweiten Halbzeit aufgerafft hatte. Andererseits waren die englischen Angriffe nur selten gefährlich.
Es passte auch im vierten Spiel an dieser EM nicht viel zusammen. England in der Version 2024 ist die x-te Ausgabe eines Fussballteams, die einen daran erinnert, dass die Gleichung «hochtalentierte Spieler + hochbezahlte Spieler» in der Summe nicht zwangsläufig zum Resultat «erfolgreiche Mannschaft» führt.
Die Schweiz zeigt in Deutschland ein ganz anderes Gesicht. Sie ist eine überaus solidarische Mannschaft, mit einem starken Pressing, mit schnellen Angriffen, einer sicheren Abwehr. Während England eine der grossen Turnier-Enttäuschungen ist, ist die Schweiz eine der grossen positiven Überraschungen.
Auch sie hat ihre Führungsspieler. Aber nicht die Prominenz der Stars, wie man sie im englischen Kader findet. Dafür beweist die Schweiz eindrücklich, dass Namen nichts als Buchstaben sind, die auf den Rücken des Trikots gedruckt sind. Dass der Fussball zwar (auch) von Individualisten lebt, aber letztlich eben ein Mannschaftssport ist.
Xherdan Shaqiri steht für diesen Gedanken, dass es jeden Spieler im Kader braucht und nicht bloss jene der Startelf. In drei Spielen war einer der prominentesten Schweizer bloss Zuschauer, bei seinem einzigen Einsatz brillierte er gegen Schottland mit einem herrlichen Tor.
Murat Yakin bewies sich als meisterhafter Taktiker, der für jeden Gegner eine passende Lösung bereit hatte. Sein Gegenüber Gareth Southgate wirkte öfter ratlos, seine fehlende Risikobereitschaft ärgert Fans wie Experten gleichermassen. Dass er zu Beginn der Verlängerung gegen die Slowakei und beim Stand von 2:1 seine beiden grössten Stars, die beiden Torschützen Bellingham und Harry Kane auswechselte, war – wenn man dies zu Southgates Gunsten auslegen will – wenigstens mal eine Überraschung.
England muss gegen die Schweiz auf Marc Guéhi verzichten. Der Innenverteidiger überzeugte bislang an diesem Turnier, sah im Achtelfinal zum zweiten Mal Gelb und ist deshalb gesperrt. Die Schweizer können – sofern sich in dieser Woche niemand verletzt oder erkrankt – personell aus dem Vollen schöpfen.
Nirgends steckt mehr Geld im Fussball als in England, die Premier League ist das Mass aller Dinge. Doch die Nationalmannschaft hinkt den Ansprüchen ewig hinterher. An der WM 2018 schafften es die «Three Lions» bis in den Halbfinal, an der EM 2021 sogar bis in den Final. Aber der grosse Traum, nach der WM 1966 endlich wieder einmal ein grosses Turnier gewinnen zu können, erfüllte sich bis heute nie.
Die bisherigen Auftritte an der EM haben den Fans keinen Grund geliefert, schon früh euphorisch zu werfen. Die Schweiz hat es in den Füssen, dass in diesem Jahr kein Engländer «It's Coming Home» anstimmt. Geht es nach den bisherigen Leistungen an diesem Turnier, dann geht die Nati als Favoritin in die Partie. Gelingt ihr nochmals ein Spiel wie gegen Italien, kann die Reise weitergehen.