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Manchester, 1. Mai 2016, 15.20 Uhr. Im Old Trafford sind 15 Minuten der Partie zwischen Manchester United und Leicester City gespielt. Der Gast aus Leicester, vor der Saison als Abstiegskandidat gehandelt, kämpft drei Spieltage vor Schluss um den Meistertitel. Das «Theatre of Dreams» könnte die kühnsten Träume verwirklichen, die selbst hochoptimistische Leicester-Fans nicht zu träumen wagten. Doch vorerst kommt alles anders.
Leicester wird von den «Red Devils» regelrecht vorgeführt. Louis van Gaal hat mit Rashford, Martial, Rooney, Lingard und Fellaini gleich fünf Spieler mit grossem Offensivdrang aufgestellt. Leicester hat keine Luft zum Atmen, kommt nicht aus der eigenen Hälfte raus. Nach dem Führungstreffer durch Martial drückt Man United auf das 2:0. Der Ballbesitz ist irgendwo um die 80 Prozent.
Und dieses Leicester soll englischer Meister werden, fragt man sich nach dieser Startphase zu recht. Wie in aller Welt hat es diese Mannschaft nur an die Tabellenspitze geschafft?
Die Antwort gibt es bereits, als Manchester United weiter blind nach vorne spielt. Leicester kommt nach einem Gegenangriff zu einem Freistoss. Drinkwater zirkelt den Ball präzise in den Strafraum, Wes Morgan köpft das Leder wuchtig in die Maschen. 1:1. Leicester ist zurück, wie aus dem Nichts.
«The Foxes», die Füchse, so lautet der Spitzname von Leicester. Der Fuchs ist es auch, der in der Fabel als schlau, hinterlistig und durchtrieben gilt. Die Taktik des frischgebackenen Meisters könnte nicht prägnanter beschrieben werden.
Denn was die englischen Füchse aus Leicester mit Ranieri, dem grauen Fuchs an der Seitenlinie und dem Christian Fuchs als Linksverteidiger fabrizieren, ist nicht minder schlau, hinterlistig und durchtrieben als es der Fuchs in der Fabel ist. Leicester City hat die ganze Liga mit seinem unorthodoxen Fussball reingelegt, sie haben all den Topklubs als Antipol zum modernen, ballbesitzorientierten Fussball ein Schnippchen geschlagen und damit bewiesen: Auch schlaue Füchse bleiben Raubtiere.
Das Geheimnis um die Leicester-Taktik ist so simpel, dass es fast schon unverschämt ist. Denn Claudio Ranieri hat das Rad nicht neu erfunden. Er hat lediglich gemerkt, dass er den Premier-League-Fussball mit einer einfachen, eigentlich veralteten Taktik – trotz einer auf dem Papier deutlich schwächeren Mannschaft – dominieren kann.
Etwas komplex ausgedrückt, lässt sich Leicesters Taktik wie folgt beschreiben: Sie stehen tief, um bei Ballgewinn durch blitzschnelles Umschaltspiel und nachfolgendes, aggressives Gegenpressing zu Torchancen zu kommen. Klingt zwar schön, es ist im Grunde jedoch nichts anderes, als das gute alte «Kick and Rush», wie es schon in den 1990er Jahren und teilweise früher praktiziert wurde.
Der Fussball hat sich in eine Richtung entwickelt, in der schon in der Jugendausbildung gelehrt wird, dem Ball Sorge zu halten. Hast du den Ball, hast du die Kontrolle. Nach Ballgewinn wird sich erst mal geordnet, der erste Pass sicher gespielt. Falls schnelles Umschalten nach vorne möglich ist, umso besser, aber Hauptsache vorerst kein Risiko eingehen. Man könnte ja das begehrte Stück Leder wieder verlieren.
Claudio Ranieri macht mit Leicester ziemlich genau das Gegenteil. Oberste Priorität hat das sofortige Umschalten. Nach Ballgewinn geht es meist keine drei Sekunden, bis der Ball in die Spitze gespielt wird. Von den 98 Klubs in Europas Top-5-Ligen hat Leicester den dritthöchsten Anteil an langen Bällen im eigenen Passspiel, wie CIES Football Observatory ermittelt hat.
Weil die Gegner gegen Leicester eingeladen werden und dann tatsächlich hoch aufrücken, werden die langen Bälle direkt nach dem Umschalten oftmals gefährlich und landen entweder beim wendigen Tempodribbler Riyad Mahrez oder dem pfeilschnellen Jamie Vardy. Beide sind mit ihrer individuellen Klasse praktisch aus jeder Lage für ein Tor gut.
Gelingt es der gegnerischen Abwehr, die langen Bälle von Leicester wegzuköpfen, kommt der nächste taktische Kniff des «Kick and Rush» zum Tragen: Mit aggressivem Gegenpressing, also dem Erzeugen von hohem Druck auf den ballbesitzenden Spieler durch sofortiges Nachrücken, gelingt es Leicester regelmässig, den Ball schon in der Angriffszone wieder zurückzuerobern. «Kick and Rush» at its best! Gelingt das nicht, zieht sich die Mannschaft wieder zurück um das zu tun, was sie am besten kann: Verteidigen.
Nicht überraschend kommen aufgrund der Taktik die statistischen Werte, bei denen Leicester ganz hinten klassiert ist. Die «Foxes» haben eine Pass-Erfolgsquote von 70 Prozent und damit den niedrigsten Wert der ganzen Premier League. Auch beim Ballbesitz ist Leicester nur auf Rang 18 klassiert. Aber wer braucht schon Ballbesitz? Darauf verzichtet auch Diego Simeone mit Atlético Madrid seit Jahren erfolgreich und sagte kürzlich: «Wozu brauche ich dauernd den Ball? Im Fussball geht's nur um eines: ums Gewinnen.»
Mit Claudio Ranieri hat Leicester im Sommer einen bisher chronisch erfolglosen Trainer verpflichtet. In seinen zahlreichen Stationen (u. a. Valencia, Chelsea, Juventus, Roma, Inter, Monaco) hat er es nie geschafft, einen Meistertitel zu gewinnen. Zuletzt blamierte er sich als Nationaltrainer von Griechenland (4 Spiele, 1 Punkt, 1:5 Tore), als es in der EM-Qualifikation unter anderem gegen die Färöer-Inseln zuhause ein 0:1 absetzte.
Es schien wie ein fataler Fehler von Leicester, diesen Trainer zu verpflichten. Denn die Zeiten, als dieser «Steinzeit-Fussball», wie der «Kick and Rush» auch genannt wird, noch erfolgreich war, sind vorbei. Claudio Ranieri hat jedoch erkannt, dass es in der englischen Spektakel-Liga, in der praktisch alle Teams fast blind nach vorne stürmen, die perfekte Taktik ist, um zum Erfolg zu kommen.
Für sein klassisches 4-4-2, meist mit Doppel-Sechser, manchmal auch mit einer hängenden Spitze, also eher einem 4-4-1-1, hat Ranieri in Leicester das perfekte Spielermaterial. Wer verteidigen und schnell umschalten kann, ist gesetzt, wer nicht ins Konzept passt, findet sich auf der Tribüne wieder.
Damit wäre die Überleitung zu Gökhan Inler geglückt. Der (ehemalige) Schweizer Nati-Captain ist für sieben Millionen Euro nach Leicester gewechselt, kam während der ganzen PL-Saison jedoch nur auf 195 Einsatzminuten. Das hat weniger mit den Qualitäten, sondern viel mehr mit der Spielweise von Inler zu tun.
Inler ist der Typ, der lieber etwas Tempo rausnimmt, einen Quer- oder Rückpass spielt, um den Ballbesitz nicht preiszugeben. Mit ihm kann Claudio Ranieri deshalb einfach nichts anfangen. Das ist bitter für Inler, aber verständlich aus Sicht des Trainers.
Zudem hat Ranieri mit Drinkwater und vor allem N'Golo Kanté zwei zentrale Mittelfeldspieler, die geradezu prädestiniert sind, um die Taktik des Italieners umzusetzen. Speziell Kanté, sowas wie das Mädchen für alles im Mittelfeld von Leicester, ist unverzichtbar. Der Box-to-Box-Player ist der beste und vor allem wertvollste Mittelfeldspieler dieser Premier-League-Saison.
Doch weshalb funktioniert die Taktik ausgerechnet bei Leicester so gut? In erster Linie ist die taktische Naivität von vielen englischen Klubs dafür verantwortlich. Ausser Arsenal, welches Leicester zwei der drei Liganiederlagen zufügte, schaffte es kein Team, sich dem unorthodoxen Spielstil anzupassen.
Alle suchten ihr Glück in der Offensive und liessen sich von der Ranieri-Truppe übertölpeln. Denn wenn alle nach vorne stürmen, gibt es hinten Löcher. Und Löcher in der gegnerischen Verteidigung sind sowas wie das Schlaraffenland für die pfeilschnellen «Foxes». In keiner anderen Top-Liga Europas wäre der Erfolg mit dieser Spielweise möglich gewesen, weil überall mehr defensive Verantwortung herrscht als in der Premier League.
Dazu kommt, dass Leicester das absolut perfekte Spielermaterial für den «Kick and Rush» hat. Da sind die offensiven Ausnahmespieler Vardy und Mahrez, die in der Öffentlichkeit als Sinnbilder des Erfolges stehen und im Sommer womöglich für hohe zweistellige Millionenbeträge den Verein wechseln werden.
Das wahre Erfolgsduo ist jedoch ein anderes: Die Grundpfeiler des Erfolgs sind richtige Türme: Wes Morgan und Robert Huth in der Innenverteidigung.
Im modernen Fussball setzen Trainer gerne auf spielstarke Innenverteidiger mit einer sauberen Spieleröffnung. Wes Morgan und Robert Huth können das nicht. Sie sollen das aber auch nicht. Sie sollen den Ball lediglich mit ihren Pferdeschenkeln weit nach vorne dreschen, das ist ihre praktisch einzige Aufgabe im Aufbauspiel.
In der gut gestaffelten Defensive werden die Gegner praktisch gezwungen, Flanken zur Mitte zu schlagen. Es sind diese hohen Bälle, die Huth und Captain Morgan, wie er genannt wird, mit Vergnügen wegköpfen und dabei dem gegnerischen Stürmer noch so gerne den Ellbogen in den Rücken rammen.
Denn alles was in die Nähe des Strafraums kommt, wird schnell und unsanft dahin zurückbefördert, wo es hergekommen ist. Es scheint, als leben diese «Verteidiger alter Schule» dafür, am Wochenende jeweils wieder Frischfleisch in Form von gegnerischen Stürmern abgeliefert zu bekommen, um sie dann über die gesamten 90 Minuten zu malträtieren.
Mit dieser Spielweise hat Leicester in 36 Spielen 15 Mal zu null gespielt. Auch dank einem überragenden Schlussmann. Kasper Schmeichel, Sohn von Torwart-Legende Peter Schmeichel, zeigt eine überragende Saison und ist auf den Spuren seines Vaters, der zweimal zum Welttorhüter des Jahres gewählt wurde.
Zurück im «Theatre of Dreams». Da hat das Theater nach dem überraschenden Ausgleich ein Wende genommen. Leicester hat zwar bis zum Spielende weit weniger Spielanteile, durch ihre Lufthoheit bei den Standards sind sie aber nicht minder gefährlich. Es bleibt schliesslich beim 1:1. Leicester verpasst den vorzeitigen Meistertitel, darf am Montag aber dennoch feiern.
Dank der Schützenhilfe von Chelsea, das dem ungeliebten Stadtrivalen aus Tottenham ein 2:2 abknöpft, sind die «Foxes» dennoch Meister. England hat sein Fussballmärchen, das in dieser Weise in keiner anderen Topliga möglich gewesen wäre. Und alle freuen sich, über die scheinbar revolutionäre Taktik von Ranieri, die nichts anderes ist als die perfekte Umsetzung von «Kick and Rush».