Sekundenbruchteile, die über Leben und Tod entscheiden können. Tom Lüthi stürzt sechs Minuten vor Schluss des zweiten Trainings, purzelt über die Piste und der heranbrausende Bo Bendsneyder (20) findet die lebensrettende, kleine Lücke zwischen dem gestürzten Piloten und dessen Maschine.
Heute sind die Rennstrecken so ausgelegt, dass Stürze fast immer glimpflich verlaufen. Die Piloten prallen nicht mehr auf Hindernisse. Sie rutschen vom Asphalt in die grosszügig konzipierten Sturzräume und prallen, wenn es arg kommt, in die Luftkissen vor den Abschrankungen.
Ein Albtraum bleibt, wird immer bleiben: Der Pilot kommt nach einem Sturz nicht von der Rennbahn weg und wird überfahren. So hat unter anderem Dominique Aegerters Teamkollege Shoya Tomizawa 2010 sein Leben verloren. Tom Lüthi hatte sehr, sehr viel Glück.
«Kein Problem» beruhigt er nach dem Training «Ich bin okay.» Er habe nach dem Sturz realisiert, dass einer vorbeigefahren sei. Es ist ihm jetzt, unmittelbar nach dem zweiten Training, gar nicht bewusst, dass er von den Schwingen des Schicksals gestreift worden ist. Und wenn er es gewusst hätte, so würde er nicht anders reagieren. Er ist Rennfahrer. Wer über die Gefahren ins Grübeln kommt und darüber sinniert, was hätte sein können, ist verloren. Bo Bendsneyder fährt gleich nach dieser Schrecksekunde seine beste Rundenzeit und platziert sich vor Tom Lüthi (13.) auf Rang 12.
Es ist Tom Lüthis erster Sturz in dieser Saison, seit der Rückkehr aus der «Königsklasse» MotoGP. Ein wichtiger Bestandteil des Testprogrammes war das Vermeiden von Unfällen. Um nach der schwierigen letzten Saison (keine WM-Punkte, 13 offiziell registrierte Stürze in Training und Rennen) die Sicherheit eine Klasse tiefer wiederzufinden. Nun ist es doch passiert. «Kein Problem» sagt Tom.
Wenn einer weiss, warum er aus dem Sattel gefallen ist, dann ist es auch kein Problem. Tom Lüthi weiss um die Ursache seines Unfalles. «Ich habe zu viel riskiert.» Es ist das Risiko, das er bei den Tests nicht eingegangen ist. Nicht eingehen musste.
Aber die Testfahrerei ist vorbei. Es ist der erste Tag der neuen Saison, der ersten zwei Trainings zum GP von Katar.
Am Vormittag ist Tom Lüthi ganz vorne (4.) dabei. Aber am Nachmittag klemmt es mit Zeiten zwischen den Rängen 8 und 15. Das ist zu wenig. Zumal Teamkollege Marcel Schrötter (26) am Vormittag Bestzeit gefahren ist und nach dem zweiten Training noch immer Position zwei hält.
Es ist Tom Lüthis Tanz auf der Rasierklinge. Zuviel Risiko führt zum Unfall, wer zu wenig wagt, rutscht in die hinteren Ränge. Nur wer dieses Risiko richtig dosiert, wird im Kampf um den WM-Titel eine Chance haben.
Bei Tom Lüthi ist diese Dosierung der entscheidende Faktor: Nur wenn er keinen «Nuller» einfährt – also in keinem Rennen ausfällt – wird er um die höchste Auszeichnung fahren können. Denn bereits jetzt zeichnet sich ab: Er kann gegen die «jungen Wilden» einen «Nuller» nicht mit einer Serie von Siegen kompensieren.
Wer Dominique Aegerter nach diesem ersten Trainingstag zuhört, hat den Eindruck, er sei mindestens so schnell wie Tom Lüthi.
Er spricht von grossen Fortschritten mit der MV Agusta. Man sei auf dem richtigen Weg. Der Rückstand auf die Besten sei nicht mehr so gross wie bei den Tests. Und tatsächlich gibt es eine gute Nachricht: Er hat die Trainingsbestzeit von Alex Marquez aus dem Vorjahr unterboten. Die weniger gute Nachricht: 24 anderen Piloten ist das Kunststück auch gelungen. Dominique Aegerter steht in den Tiefen des Klassements auf dem 22. Rang. Der Wechsel von den 600ern mit vier auf die 765er mit drei Zylindern hat die Moto2-WM weiter dynamisiert.
Nach einem Jahr ganz oben (MotoGP) ist Tom Lüthi in eine Moto2-WM zurückgekehrt, die härter, verrückter, anforderungsreicher und gefährlicher ist als je zuvor.