Wir dürfen den Archipel Olympia erst für die Heimreise verlassen. Aber zwischendurch nicht. Das Leben spielt im Hotel, im Bus und in den verschiedenen Maschinenräumen der olympischen Bilder- und Wortindustrie: in den Medienzentren.
Und so kommt es, dass sich der Chronist intensiver mit den Bewohnerinnen und Bewohner auf dem Planeten (oder Archipel) Olympia befasst.
Er hat inzwischen herausgefunden, dass es eigentlich drei «Völker» gibt: Die Feen und Heinzelmännchen, die Marsmenschen und die Menschen, die mit einer Maschine sprechen.
Die Furcht vor den Marsmenschen will einfach nicht weichen. Der Chronist hat sich inzwischen zwar an ihren Anblick und an die täglichen PCR-Tests gewöhnt. Aber er hat immer noch ein wenig Angst, die Marsmenschen könnten ihn holen.
Kommt dazu: Die Marsmenschen sprechen nicht. Oder besser: Sie geben nur Anweisungen. Der Chronist weiss nicht, wer sie sind, woher sie kommen, was sie denken. Es sind fast ein wenig seelenlose Wesen im Niemandsland zwischen Soldaten und Robotern.
Die Menschen, die mit einer Maschine sprechen, sind die freundlichen freiwilligen Helferinnen und Helfer, die nur der chinesischen Sprache mächtig sind.
Sie tragen ein hosentelefonähnliches Gerät mit sich. Sie sprechen chinesische Worte hinein und auf dem Bildschirm erscheint ein Text in Englisch. Und wenn der Chronist etwas wissen möchte, dann spricht er in englischer Sprache in diese Maschine und auf dem Bildschirm erscheinen chinesische Schriftzeichen. Eine angeregte Unterhaltung ist so natürlich nicht möglich.
Gut gibt es also noch die Feen und Heinzelmännchen. Die freiwilligen Helferinnen (Feen) und Helfer (Heinzelmännchen), die Englisch sprechen. Inzwischen hat der Chronist herausgefunden, dass es davon überraschend viele gibt.
Sie sind freundlich, klug und auf eine zurückhaltende Art und Weise doch neugierig. Ob das, was sie dem Chronisten erzählen, auch wahr ist oder ob sie ihm einen Pandabären aufbinden, vermag er natürlich nicht nachzuprüfen. Er kann einfach nacherzählen, was er vernommen hat.
Es sind ungefähr 20'000 freiwillige Helferinnen und Helfer (Volunteers) im Einsatz. Eine der Feen, die beim Busterminal beim grossen Medienzentrum Dienst tut, erzählte mir kürzlich ihre Geschichte.
Sie studiert an der hiesigen Universität Architektur und hat sich für den freiwilligen Dienst auf dem Archipel Olympia gemeldet.
Sie habe ein mehrstufiges Programm durchlaufen. Neben den PCR-Tests sei bei mehreren Tests auch die psychische Belastbarkeit geprüft worden. Sie vermutet, man wolle offenbar so weit wie möglich «Problemtypen» fernhalten.
Wie geht ein psychologischer Eignungstest im heutigen China? Werden Lügendetektoren eingesetzt? Wird der Kandidaten strengsten Verhören unterzogen? Wird die kommunistische Gesinnung getestet?
Nein, nein erzählt die Fee. Alles sei «easy» gewesen. Sie sei unter anderem aufgefordert worden, eine farbige Zeichnung zu machen. Ohne Vorgabe. Einfach eine farbige Zeichnung.
Also hast du einen Pandabären gemalt? Nein, nein, das ist doch ein Klischee. Sie habe noch nie einen Panda gesehen. Sie habe grüne Bäume und ein Haus gezeichnet.
Grüne Bäume und ein Haus: Der Chronist vermutet, dass die Prüfer vielleicht daraus ableiten, die Testperson strebe bewusst oder unbewusst nach Harmonie mit der Natur und einem einfachen, arbeitsamen Leben. Aber der Chronist weiss es nicht. Er ist nicht einmal Küchentisch-Psychologe.
Das Leben auf dem Archipel Olympia (der Ausdruck gefällt ihr) sei gar nicht so schlimm. Die Arbeitszeit betrage acht Stunden und diese Zeit verbringe sie auf dem grossen Busterminal.
Alle Buslinien sind nummeriert. Wer nicht weiss, welcher Bus wohin fährt – sie gibt Auskunft. Sie sei in einem Hotel untergebracht und nütze die freie Zeit fürs Fernstudium über Internet.
Insgesamt bleibe sie drei Monate auf dem Planeten Olympia (auch dieser Ausdruck gefällt ihr). In dieser Zeit dürfe sie die olympische Blase nie verlassen. Nach dem Ende der Spiele und der Paralympics müsse sie – wie alle – drei Wochen in Quarantäne verbringen. Erst dann folge die Entlassung ins normale Leben. Drei Wochen Quarantäne nach den Spielen? Kann das sein? Ich frage extra nach, ob es wirklich drei Wochen seien. Sie sagt: ja, 21 Tage.
Wie hält man es drei Wochen in Quarantäne aus? Oh, das sei kein Problem. Sie lerne fleissig übers Internet. Nein, es gebe keine finanzielle Entschädigung für den gesamten Einsatz. Aber Jacke, Hose und die Mütze dürfe man behalten.
Der Chronist weiss, dass das Böse viele Menschen mehr interessiert und fasziniert als das Gute. Dass sicherlich nicht ungern gelesen wird, wie «strub» es in China hinten zu und hergeht. Dass er eigentlich Schauermärchen aus dem Reich des Bösen erzählen könnte.
Aber der Chronist kann zumindest in diesem Zusammenhang keine Geschichte über das Böse, über schäbig behandelte oder ausgenutzte freiwillige Helferinnen oder Helfer anbieten.
Sie sei auf dem Land aufgewachsen und habe die Chance bekommen, hier in Peking zu studieren. Und fragt: Welches Land gibt seinen jungen Menschen diese Chance auf Bildung und ein gutes Leben?
Der Chronist hat sich inzwischen mit vielen Feen und Heinzelmännchen ein wenig unterhalten. Er vertreibt sich so die Wartezeiten auf den nächsten Bus oder manchmal einfach so. Er hört von allen sehr ähnliche Geschichten.
Der Chronist ist gutgläubig, freundlich und manchmal vielleicht gar ein wenig naiv. Aber im Laufe der Jahre hat er bei Reisen durch streng regierte Länder, in der alten DDR, in der Sowjetunion und im neuen Russland zwischen Moskau und Wladiwostok und Kaukasus oder in Nordkorea und Katar gemerkt, wie schwierig es ist, ein politisches System zu durchschauen und herauszufinden, wie es wirklich ist.
Der Chronist kommt eigentlich nur zu einer sicheren Erkenntnis: Die psychologische Eintrittsprüfung für den freiwilligen Dienst auf dem Archipel Olympia muss raffiniert sein. Dissidentinnen und Dissidenten, Chaotinnen und Chaoten sind keine durchgekommen.
Was den Chronisten fasziniert und was er zu Hause abzuklären versucht: Was hat es mit diesem Bildertest auf sich? Und er beabsichtigt, ein paar Mitmenschen bei Gelegenheit aufzufordern, eine farbige Zeichnung zu machen.
Wohl denen, die grüne Bäume und dazu ein Haus zeichnen.