Nach Nordkorea reisen? Die Reaktionen sind dramatisch. Von «Wahnsinn» über «völlig verrückt», «habt ihr ein Testament hinterlegt?» bis zur Frage, ob so eine Reise «ethisch überhaupt vertretbar sei». Zumindest auf diese letzte Frage ist die Antwort einfach: Falls eine Reise in ein Land, das interkontinentale Raketen baut oder an Atombomben bastelt, nicht vertretbar ist, dann darf ich auch nicht nach Frankreich, China, Grossbritannien oder Russland reisen.
Aber wir wollen nicht philosophieren. Diese Einleitung soll lediglich illustrieren, wie extrem die Vorurteile/Vorstellungen im Fall von Nordkorea sind. Es gibt wahrscheinlich kein anderes Land, über das wir so wenig verlässliche Informationen haben, das so sehr als «Schurkenstaat» gilt und darüber hinaus eine sozialistische Gesellschaftsform gewählt hat, die im Westen sowieso den Schwefelgeruch des Bösen hat. Und wer immer in diesen Tagen eine Geschichte über Nordkorea erzählt, kann der Phantasie freien Lauf lassen und aufs aller dramatischste übertreiben. Schwerlich wird sich jemand finden, der sagt: «Moment mal, ich war dort, so ist es nicht.»
Und wie ist es wirklich? Das ist eine Frage, die mich schon lange beschäftigt hat. Ich habe zusammen mit meiner Freundin eine zehntägige Rundreise in dieses «Reich des Bösen» unternommen. Mir ist klar, dass zehn Tage nicht genügen, um ein so geheimnisvolles Reich auch nur im Ansatz zu erkunden. Es heisst, Nordkorea sei ein geheimnisvolles Land hinter sieben Vorhängen und der Fremde könne vielleicht hinter den ersten Vorhang sehen. Nicht einmal der südkoreanische Geheimdienst verfügt über verlässliche Informationen über die Vorgänge im Inneren seines Nachbarn. Dabei sind es von der südkoreanischen Hauptstadt bis zur Grenze bloss 60 Kilometer.
Und der Begriff «Potemkinsches Dorf» ist mir vertraut. Die Redewendung geht zurück auf den russischen Feldmarschall Grigori Alexander Potemkin. Um Zarin Katharina II. zu beeindrucken, hat er angeblich 1787 vor dem Besuch der Herrscherin in einem von ihm eroberten Gebiet entlang der Wegstrecke Dörfer aus bemalten Kulissen zum Schein errichtet. Um ein blühendes Land vorzutäuschen. Und aus Reisen in die einstige Sowjetunion ist mir klar, wie schlau es autoritär regierte Staaten verstehen, den Besuchern nur das zu vermitteln, was vermittelt werden soll.
Wir haben allerdings in Nordkorea in zehn Tagen über 1500 Kilometer zurückgelegt. Hauptsächlich auf dem Weg nach Wanson an der Ostküste, an die Demarkationslinie (die Grenze zu Südkorea), nach Norden in die Myohyang-Berge und in der weiteren Umgebung von Pjöngjang. An einer so langen Wegstrecke «potemkinsche Dörfer» zu bauen, ist nicht ganz einfach.
Eine Reise nach Nordkorea ist eine Fahrt in ein zumindest oberflächlich freundliches «Reich des Bösen» und letztlich die Auseinandersetzung mit einer Tragödie, mit einem fatalen Irrtum der Geschichte. Nach zehn Tagen bleibt die mehr verwirrende als erhellende Erkenntnis, dass fast nichts so ist, wie ich es mir nach intensiver Lektüre über dieses Land vorgestellt hatte. Und das vielleicht doch alles ganz anders ist. Wer sich nur auf das verlässt, was er sieht und hört, kann sich ja auch dramatisch täuschen.
Individual-Tourismus ist in Nordkorea nicht möglich. Eine nur über die staatliche Tourismus-Organisation buchbare Reise ähnelt eher einem Staatsbesuch, zumindest einer Reise mit VIP-Status. Aber zum Normalpreis. Ab Peking kostet das Nordkorea-Abenteuer weniger als 4000 Franken pro Person.
Die offizielle Reise beginnt mit dem Flug ab Peking. Regelmässige Flüge in die Hauptstadt Pjöngjang gibt es nur von Peking und Shenyang (eine Millionenstadt im Süden von China) aus. Eine UN-Resolution verbietet den Verkauf von Kerosin an Nordkoreas staatliche Airline «Air Koryo» und es besteht ein fast weltweites Lande- und Überflugverbot für ihre Maschinen.
Aber alle herumgebotenen Schauergeschichten über diese angebliche «Schrott-Airline» sind frei erfunden und treffen nicht zu. Ich bin zwar kein Aviatik-Spezialist. Aber den Flug (Maschine, Komfort an Bord, Bedienung, Verpflegung, Start und Landung) habe ich nicht anders erlebt als einen Europa-Flug der Swiss. Einziger Unterschied: Während des ganzen Fluges berieselt leicht melancholische koreanische Musik die Passagiere.
Die Einreise? Ich rechnete mit mindestens einer Stunde, Leibesvisitationen und vollständigem Auspacken der Koffer durch finstere Typen. Die ganze Angelegenheit war indes in weniger als zehn Minuten erledigt. Keine weiteren Fragen nach einem kurzen Blick in den Pass und ins Einreiseformular, das sich nicht von den Papieren unterscheidet, die bei der Einreise in fast alle ausser-europäischen Länder auszufüllen sind. Am Zoll bloss ein flüchtiger Kontrollblick in den Koffer ohne Nachfragen. Niemand fragt nach dem Smartphone oder der Kamera. Kein Vergleich zum mühseligen, einschüchternden Einreiseprozedere ins einstige sozialistische Russland. Und viel zügiger als eine Einreise in die USA oder Kanada. Und gleich hinter dem Zoll wartet die Reiseleitung. Das soll ein «Reich des Bösen» sein?
Zehn Tage lang fahren wir in einem Kleinbus von drei Personen begleitet (beaufsichtigt?) durchs Land. Vom Chauffeur, einer Reiseleiterin und einem Reiseleiter, die beide Germanistik studiert haben und fliessend Deutsch sprechen. Durch meinen Visa-Antrag wissen die Behörden, dass ich Chronist bin. Ganz werde ich während der ganzen Reise nicht dahinterkommen, wie die Betreuung strukturiert ist. Der kluge Reiseleiter ist wahrscheinlich Parteimitglied in hoher Position. Die Streitgespräche mit ihm über Geschichte und Sozialismus, Ideologie und Gesellschaft sind anregend, manchmal verwirrend und verstörend.
Nordkorea, dieses vermeintliche Reich des Bösen, erlebt der Reisende als ein landschaftlich wunderschönes Land. Rund dreimal so gross wie die Schweiz. Zu 81 Prozent ein Berg- und Hügelland, das von tiefen und engen Tälern durchschnitten wird, aber nur ganz im Norden an der Grenze zu China bis auf 2000 Meter ansteigt. An der Westküste gibt es eine grosse Küstenebene, die durch Urbarmachung von Marschland vergrössert worden ist.
Diese durchaus mit der Schweiz vergleichbare Topographie bedeutet, dass sich nur knapp ein Viertel der Fläche für intensive Landwirtschaft eignet. Die grünen Hügelzüge mahnen an ein asiatisches Emmental oder an das Auenland aus Tolkiens «Herr der Ringe». Das Klima ist extrem und erschwert die Landwirtschaft und hat grossen Einfluss auf die Ernteerträge: über 30 Grad feuchte Hitze im Sommer, bis zu 20 Grad minus im Winter und die latente Gefahr von heftigen Regenfällen und Überschwemmungen.
Dahinter verbirgt sich allerdings eine Tragödie. Die wegen der Raketen- und Atomtests verhängten Sanktionen machen es der Regierung praktisch unmöglich, die Devisen zu erwirtschaften um auf dem Weltmarkt Nahrungsmittel zu kaufen.
Eine Bevölkerung von etwas mehr als 25 Millionen aus dem eigenen Land ernähren – das mahnt an den «Plan Wahlen». An die unter der Leitung von Friedrich Traugott Wahlen geführte «Anbauschlacht». Den Versuch der Schweiz, sich während des 2. Weltkrieges selber zu versorgen. Jeder Flecken Erde wird bebaut. Vor allem Mais und Reis. Der Mangel an Erdöl erschwert allerdings eine hochmechanisierte Agrarindustrie so stark wie die dem Sozialismus innewohnenden Schwäche, eine effiziente Landwirtschaft aufzubauen. Im Zentrum steht auf dem Lande deshalb die Arbeit aus Tausenden und Abertausenden von Händen.
Der Reiseleiter erzählt, dass jetzt gerade die «Generalmobilmachung» laufe. In dieser besonders arbeitsintensiven Zeit des Reis- und Maisanbaus gebe es 70 Tage lang keinen einzigen Sonntag im Lande. Alle müssen mithelfen. Dazu gehöre die Regel, dass alle, die Reis essen, auch beim Reisanbau helfen müssen. Mindestens eine Woche Landdienst sei für alle, auch die Stadtbewohner, obligatorisch. Zu den Besonderheiten gehört die Sechstagewoche für die Stadtbewohner und die Zehntagewoche für die Landbevölkerung.
Weil die Landwirtschaft so arbeitsintensiv ist, haben die Bauern übers ganze Jahr nur jeden 11. Und nicht jeden 7. Tag frei. Selbst ein unpolitisch denkender Mensch erkennt einen grausamen Zynismus: Die Weltgemeinschaft hat durch die Sanktionen ganz massgeblichen Anteil am Hungerproblem in diesem Land, das vor allem die Kinder trifft – und versucht dann mit Hilfsprogrammen, finanziert aus Steuergeldern, zur Linderung der Not beizutragen. Wenn es denn je ein Beispiel dafür gegeben hat, dass Wirtschaftssanktionen nicht die Eliten sondern die «kleinen Leute» treffen – hier ist es.
Eine Fahrt auf der Autobahn aus der Stadt hinaus aufs Land ist eine Fahrt in eine andere Zeit. Autobahn? Ja, die entsprechende Signalisation ist genau gleich wie bei uns. Und oft ist die Fahrbahn auch richtungsgetrennt. Die Ränder werden von Hunderten von Händen gepflegt, immer wieder sind Arbeitsgruppen unterwegs, die Gras schneiden oder Unkraut auszupfen.
Es ist eine sozialistische Autobahn. Sie wird von allen genutzt. Radfahrern, Ochsengespannen, Fussgängern und Lastwagen und Autos. Autos? Nordkorea dürfte das einzige Land ohne Individualverkehr sein. Ein Auto zu fahren ist zwar keineswegs verboten. Aber eine Benzinkutsche kostet umgerechnet auf unsere Verhältnisse mehr als 400'000 Franken. Da kommt der Gedanke, ein Auto zu erwerben, so wenig auf wie bei mir der, einen Privatjet zu kaufen.
Es gibt die an der Nummernschildfarbe zu erkennenden Kategorien: schwarz für Militärfahrzeuge, blau für offizielle Fahrzeuge (wie unser Touristenbus oder Taxis), grün für Diplomaten, rot für Vertreter von ausländischen Firmen und gelb für Privatfahrzeuge. Ein gelbes Nummernschild haben wir nie gesehen.
Der optische Eindruck eines rein agrarischen Landes täuscht. Es gibt zwar keine verlässlichen Zahlen über die Wirtschaftsleistung. Die Planwirtschaft ist nach dem Zusammenbruch des Sozialismus in Osteuropa nicht reformiert, sondern gestärkt worden und es gibt keine sichtbare offene freie wirtschaftliche Tätigkeit. Auch nicht in Nischen wie im Sowjet-Sozialismus. Der Agrarsektor dürfte rund ein Viertel der Gesamtwirtschaft ausmachen. Aber es gibt offensichtlich trotz dem weitgehenden Fehlen ausländischer Investoren eine leistungsfähige industrielle Basis, die weitgehend für den militärischen Sektor arbeitet.
Es gibt sogar eine eigene Autoindustrie, die vor allem Laster und Kleinbusse produziert. Stadtluft macht frei ist ein Spruch aus alter Zeit bei uns. Es besagt, dass das Leben in der Stadt besser, freier ist. Das dürfte auf die rund 50 Städte mit mehr als 30'000 Einwohner und vor allem auf die Hauptstadt Pjöngjang, die einzige Millionenstadt, zutreffen. Es ist eine der saubersten, ordentlichsten Millionenstädte, die ich je gesehen habe. In dieser Beziehung mindestens auf dem Niveau von Singapur oder Tokyo. Pjöngjang ist während des Koreakrieges (1951 bis 1953) von der US-Luftwaffe praktisch vollständig zerstört worden. Mit ziemlich genau einer Bombe für jeden der damals fast 500'000 Einwohner.
Auf den Reisenden wirkt Pjöngjang wegen des extremen Gegensatzes zum rückständigen Landleben auf eine ganz besondere Art und Weise unheimlich, fast wie eine Raumstation. Es gibt keinen «sanften Anfang», keinen allmählichen Übergang von der offenen Landschaft zur Grossstadt, keine weit ausgedehnten Vorstädte, keine sich lang hinziehenden Strassen mit Tankstellen und Läden wie im Westen. Grünes Land, und nach einem oder zwei Armee-Kontrollposten taucht auf einmal, wow, die Skyline auf. Unvermittelt, beinahe unwirklich wie eine Raumstation. In einer westlichen Gesellschaft würde unter diesen Voraussetzungen eine Landflucht einsetzen. Was hier offensichtlich nicht der Fall ist. Auf den Strassen gibt es mehrere Kontrollposten der Armee – in die Stadt kommt nur, wer einen entsprechenden Passierschein hat, und aus der Stadt kommt auch nur, wer eine Bewilligung hat.
Die linken Stadtregierungen würden ob den Zuständen in Nordkoreas Hauptstadt auf den Tischen tanzen. Keine Pendler mit Privatautos. Das Fahrrad als wichtigstes individuelles Verkehrsmittel, dazu Busse und Tram. Emsige Geschäftigkeit, aber keine Hektik in den Strassen. Fleissige Hände pflegen jede Grünfläche und Abfall liegt so wenig herum wie im Disneyland. Und am Abend wird Energie gespart.
In der Nacht legt sich weitgehend Dunkelheit über die Stadt, um Strom zu sparen (Strom wird durch Wasser- und Kohlekraftwerke produziert). Die wenigen Restaurants schliessen spätestens um 21.30 Uhr. Es rockt nicht in Pjöngjang. Um mich nicht dem Vorwurf des Zynismus auszusetzen: Ich weiss nicht, ich kann es nicht wissen, wie freiwillig oder unfreiwillig die Menschen so leben, wie sie leben. Der Chronist denkt bloss verwirrt, das ist ja wie bei der alten Lebensweisheit der Bauern aus dem Emmental und dem Oberaargau. Es ist am besten, sich zur gleichen Zeit wie die Hühner schlafen zu legen und am Morgen mit den Hühnern aufzuwachen und mit der Arbeit zu beginnen. Ein Vergleich von Pjöngjang mit einer Stadt wie New York ist völlig absurd. New York ist das pulsierende, multikulturelle Herz einer Weltmacht. Pjöngjang das auf eine unheimliche Art und Weise sterile, ordentliche Zentrum eines geheimnisvollen «Reich des Bösen» und mahnt eher an Orwell und Kafka als an Grisham und T.C. Boyle.
Das Regime hat sich intensiv mit dem Zusammenbruch des Sozialismus in der Sowjetunion beschäftigt und ist zum Schluss gekommen, auch eine Vernachlässigung der Ideologie habe den Untergang herbeigeführt. Daher ist nicht Reform, sondern Straffung das Programm. Eine praktische Auswirkung ist die völlige Abschottung des Landes. Ausländische TV- und Radio-Programme sind nur in den Touristenhotels und dort nur in den für die Gäste reservierten Zimmern zu empfangen.
Ausländische Zeitschriften und Zeitungen gibt es nicht, die Einfuhr von ausländischen DVDs, Büchern oder Zeitschriften ist eine schwere Straftat, die mit Deportation ohne Wiederkehr bestraft werden kann. Das Internet heisst Intranet. Es funktioniert nur innerhalb des Landes. Smartphones sind in den Städten weit verbreitet, aber Verbindungen ins Ausland sind nicht möglich – nur westliche Touristen mit westlichen Smartphones können ganz im Süden, an der Demarkationslinie, wo südkoreanische Netze einstrahlen, auf einmal Verbindung in die Heimat aufnehmen.
Enganliegende Shirts, Blusen oder enge Hosen sind nicht erlaubt, zu kurze Röcke und lange Haare sowieso nicht, und T-Shirts mit westlichen Aufdrucken erst recht nicht. Sittenwächter notieren die Namen allfälliger Sünder, die ernsthaft abgemahnt werden. Als Strafe droht eine Versetzung aufs Land.
Es fällt auf, dass die Männer praktisch Einheitsfrisuren tragen, geschnitten wie die von Staatschef Kim Jong Un. Mein Gesprächspartner sagt, das geschehe aus Verbundenheit mit ihm. Sein Entsetzen über meine frivole Entgegnung, Gott sei Dank habe der Chef keine Glatze, dürfte immer noch anhalten.
Am Ende dieser Reise ist allerdings mein eigenes Entsetzen noch grösser. Bei der Ausreise führt ein kurzer Blick in den Pass zu Aufregung und herbeieilenden Offizieren. Das Visum ist am zweiten Tag nach der Einreise abgelaufen. Ein Irrtum des Reisebüros, wie sich später zeigen wird. Acht Tage lang waren wir also illegal in Nordkorea. Mit einem US-Journalisten-Visum im Pass. Wir werden festgehalten. Das Flugzeug nach Peking wartet. Strenge Blicke. Der Fall Warmbier ist uns in bester Erinnerung. Kalter Schweissausbruch. Da taucht unser Reiseleiter wie durch Zauberhand wieder auf. Ein paar freundliche Worte. Der Spuk löst sich auf. Das «Reich des Bösen» ist auch beim Abschied freundlich zu uns.