Wir können viele gute Gründe aufführen, warum eine Verschiebung, eine Absage oder gar ein Boykott besser gewesen wären. Und doch war es richtig, das olympische Spektakel durchzuführen.
Die wahren Gründe für das unerbittliche Festhalten an den Spielen sind wahrlich keine edlen: das Prestigedenken eines autoritären Regimes und rücksichtsloser Sportkapitalismus. Das IOC lebt von den Milliarden, die nur fliessen, wenn die Spiele stattfinden. Um das Geschäft nicht zu gefährden, hat sich das IOC der Kritik an den inneren Angelegenheiten Chinas (Menschenrechte) enthalten. IOC-Präsident Thomas Bach spielte dabei eine klägliche Rolle. Und die Diskussion, ob diese Spiele denn eine nachhaltige Wirkung haben, ob die Milliarden sinnvoll investiert worden sind, ist nicht geführt worden.
Aber es gibt eben auch noch eine ganz andere Sichtweise und einen grösseren Zusammenhang über die Gegenwart hinaus.
Das Urteil der Geschichte über die «Pandemie-Spiele» könnte in ferneren Zeiten einmal ein recht günstiges sein. Denn: In Peking ist eigentlich Unmögliches vollbracht worden. Während einer Pandemie ist in einer 20-Millionen-Stadt eine Parallelwelt aufgebaut worden.
In Zeiten der Pandemie in der in vielen Ländern das tägliche Leben stark eingeschränkt worden oder gar zum Stillstand gekommen ist, sind Menschen aus über 100 Ländern nach Peking gereist. In eine Stadt, die der Bevölkerung auch während der Spiele mit einer «Zero Covid-Politik» wahrscheinlich die weltweit strengsten Massnahmen zumutet.
Es ist gelungen, diese Veranstaltung unter schwierigsten Umständen nahezu pannenfrei zu organisieren und für die Gäste (Sportlerinnen und Sportler, Medienleute) sehr gute und – abgesehen vom der nie ganz verschwindenden Angst vor einem positiven Test – angenehme Arbeitsbedingungen zu schaffen.
Die Klagen, der olympische Geist sei in Peking erneut von der Medien- und Unterhaltungsindustrie und von der Politik missbraucht worden, sind berechtigt. Sie werden allerdings seit Wiedereinführung der Spiele (1896) geführt und begleiten das olympische Spektakel seither wie das Glockengeläut die Herden. So gesehen ist Peking 2022 kein Sonderfall der olympischen Geschichte.
Olympische Spiele waren nie unpolitisch und werden es auch nie sein. Eine Veranstaltung, die auf Kosten der Allgemeinheit (der Steuerzahler, des Staates) durchgeführt wird und die daraus erzielten Milliarden-Gewinne privatisiert, kann gar nicht unpolitisch sein.
Aber da ist noch etwas: Der Sport, die Spiele von Peking haben es geschafft, die Kriegsgefahr in der Ukraine wenigstens während einer kurzen Zeit weitgehend durch schöne Geschichten und Bilder aus den Schlagzeilen zu verdrängen.
Das mag nicht viel sein. Und doch zeigt es die Kraft und die Bedeutung, die der Sport haben kann. Das ist ganz im Sinne des olympischen Geistes. In der Antike sind die Waffen während der Spiele sogar niedergelegt worden. Aus dieser Bedeutung und Kraft könnte, müsste der Sport mehr machen. Aber dazu sind die Männer und Frauen auf dem sportlichen Olymp nicht in der Lage. Das Geschäft ist wichtiger als die Moral. Aber das ist ja nicht nur beim Sport und bei Olympischen Spielen so.
Und doch: Peking 2022 steht nicht nur für eine verlorene Doppelmoral, eine politische Machtdemonstration und hemmungslose Geldmacherei. Peking 2022 steht auch als Beispiel dafür, was Menschen in schwierigen Zeiten zu leisten vermögen. Unabhängig vom Gesellschaftssystem, in dem sie leben, leben müssen.
Dürfen wir die «Pandemie-Spiele» von Peking deshalb ohne Zynismus auch als Spiele des Lichts und der Hoffnung bezeichnen?
Ja, das dürfen wir. Denn es sind auch die Spiele, die gezeigt haben, dass der Mensch stärker ist als die Pandemie.