Der Himmel ist wolkenverhangen. Der Wind bläst zügig und verweht so den Geruch von verbranntem Gummi und Treibstoff. Auf dem riesigen Vorplatz der Motorsport Arena Oschersleben steht Wohnmobil an Wohnmobil. Kaum zwei Meter Abstand vom einen zum nächsten. Privatsphäre gibt es hier nur bei geschlossener Türe und heruntergelassenen Jalousien.
Fritz ist das egal. Der dreieinhalbjährige Bobtail-Rüde liegt angeleint vor dem Eingang zum Wohnmobil der Familie Feller. Ein kurzer Blick – mehr nicht. Es ist noch früh an diesem Samstagmorgen.
Ein Morgenmensch ist Ricardo Feller nicht. Er braucht zu Beginn des Tages seine Zeit, bis er in die Gänge kommt. Eigentlich. An diesem Morgen aber ist alles anders. Er ist schon hellwach. Teammeeting um halb acht, Qualifying um zehn nach neun und Rennen um viertel nach eins. Es ist der Tag des Saisonauftakts 2017 in der ADAC GT Masters (siehe Box).
Für Ricardo Feller ist es der Tag seiner Premiere in der deutschen Rennserie der Gran-Turismo-Klasse. Und es ist nicht einfach irgendeine Premiere: Der 16-jährige Aargauer, der am 1. Juni seinen 17. Geburtstag feiert, schreibt gleich noch Geschichte. Er ist der jüngste Pilot, der je in der seit 2007 ausgetragenen Rennserie gestartet ist.
Dass er bereits in diesem jungen Alter auf diesem Niveau fahren würde, damit hat Ricardo nicht gerechnet. «Vor zwei Jahren hätte ich nicht in meinen kühnsten Träumen damit geliebäugelt, dass ich heute in einem R8-Rennen fahren würde», sagt er.
Schon früh wurde klar, dass ihn Autos faszinieren. Bereits im Alter von drei Jahren gab er seinem Vater Roberto zu verstehen, wenn ihm die Felgen an einem Auto in der elterlichen Werkstatt Digit Power im aargauischen Oberentfelden nicht gefielen. «Roberto ist darauf eingegangen und hat die Felgen gewechselt», sagt Mutter Senta.
Schon früh haben die Fellers das Flair des Knirps erkannt – und es ihn auch ausleben lassen. Seit dem vergangenen Sommer absolviert Ricardo im Geschäft seiner Eltern die Lehre zum Kaufmann mit gleichzeitigem Besuch der Handelsschule KV in Aarau.
Der Weg vom Auto-Fan zum Rennfahrer in einem knapp 600 PS starken Boliden war deshalb aber noch keineswegs vorgezeichnet. Daran änderte auch ein erster gemeinsamer Ausflug von Vater und Sohn auf eine Kartbahn nichts. «Ricardo hatte zwar viel Spass dabei, aber mehr steckte damals noch nicht dahinter», sagt Roberto.
Ganz im Gegenteil: Als er seinem mittlerweile zehnjährigen Sohn später den ersten eigenen Kart schenkte und es darum ging, diesen zum ersten Mal auf einer Kartbahn auszufahren, schien es sogar, als würde es nichts mit Ricardo und dem Motorsport.
Nicht, dass das damals schon ein Thema gewesen wäre, aber die Liaison zwischen Ricardo und seinem Kart bekundete Anlaufschwierigkeiten. Zwei Mal reisten Vater und Sohn zusammen aus ihrer Wohngemeinde Bözberg nach Lyss, beide Male kehrten sie wieder zurück, ohne dass Ricardo auch nur einen Meter auf der Kartbahn zurückgelegt hätte.
«Ich bin reingesessen, habe den Motor gestartet, aber ich konnte einfach nicht losfahren», sagt Ricardo. Weshalb, kann er heute nicht erklären. «Vielleicht hatte ich Angst oder einfach zu viel Respekt.»
Einen anderen Erklärungsansatz hält seine Mutter bereit: «Wenn ich Ricchi mit einem einzigen Adjektiv umschreiben müsste, dann wäre das ‹besonnen›», sagt sie. Und wer ihren «Ricchi» etwas beobachtet, der kommt zum Schluss, dass sie damit richtig liegen dürfte.
«Er ist nicht der Typ, der irgendetwas einfach so macht. Er will zuerst verstehen», sagt Roberto ergänzend. Beim dritten Anlauf mit seinem Kart hatte er das Gefährt offensichtlich verstanden. Von da an gab es kein Zurück mehr.
Es gibt heute wohl den einen oder anderen Tag, an dem sich Roberto und Senta hintersinnen, dass sie Ricardo den Weg in den Motorsport mit diesem einen Geschenk vor sieben Jahren geebnet haben. Natürlich sind sie stolz auf das, was ihr Sohn auf der Rennstrecke leistet.
Natürlich macht es ihnen Freude, wenn sie sehen, wie viel Spass er im Rennauto hat. Aber der Motorsport hat eben auch seine Schattenseiten: Er ist sehr kostenintensiv, zeitaufwendig und nicht zuletzt auch risikoreich.
Finanzielle Gründe haben auch ihren Teil dazu beigetragen, dass Ricardo vor zwei Wochen als jüngster Pilot der Geschichte eine Saison in den ADAC GT Masters in Angriff genommen hat. Nach lehrreichen Jahren im Kartsport bestritt Ricardo die Saison 2016 in der Formel 4.
Weil eine weitere Saison im Formel-Sport wegen fehlender Sponsoren zu teuer gewesen wäre, suchten die Fellers nach einer anderen Lösung. Ein enger Freund der Familie und Wegbegleiter von Ricardos Entwicklung überzeugte das Trio von einem Talent-Test in einem Audi TT.
Dort wurde er vom früheren Rallyefahrer Josef «Sepp» Haider entdeckt. Der heutige Audi-Talentförderer rekrutierte Ricardo nach einem weiteren überzeugenden Test in einem Audi R8 LMS kurzerhand für die Audi Sport racing academy. Und egal mit wem man dort spricht, alle halten sie grosse Stücke auf den talentierten Rennfahrer aus dem Aargau.
Eine Saison im GT-Sport ist zwar nicht wesentlich günstiger als eine im Formel-Sport. Aber: Durch den Vertrag im Audi-Ausbildungsteam ist ein Teil der entstehenden Kosten gedeckt. Nichtsdestotrotz stecken die Eltern auch in diesem Jahr einen nicht unwesentlichen Betrag in die rennfahrerische Ausbildung ihres Sohnes.
«Wir investieren viel Zeit und auch Geld, aber wir sehen die Entwicklung von Ricardo und wie er sich dafür einsetzt. Er verzichtet auf viel und macht seine Arbeit. Er macht in kurzer Zeit grosse Fortschritte und wir sind sicher, dass er es schaffen kann. Natürlich sind wir dafür auch auf Sponsoren angewiesen», sagt Roberto.
Die Thematik Finanzen beschäftigt die Eltern auch im Umgang mit Ricardos beiden jüngeren Brüdern Fernando (15) und Benjamin (13). Finanzielle Gerechtigkeit unter den Geschwistern ist bei solchen Beträgen langfristig schwierig.
Ricardo versucht, den finanziellen Faktor möglichst gut auszublenden: «Es gibt schon Situationen, in denen ich gegenüber meinen Brüdern ein schlechtes Gewissen habe. Dabei geht es aber nicht in erster Linie ums Geld, sondern viel mehr darum, dass ich unsere Eltern auch zeitlich enorm beanspruche.»
Wochenende für Wochenende verbringen Roberto und Senta mit Ricardo auf Rennstrecken. Sie unterstützen ihn, umsorgen ihn und bieten ihm mit dem Wohnmobil jederzeit einen vertrauten Rückzugsort. «Es bedeutet mir sehr viel, dass sie für mich so viel auf sich nehmen. Ohne sie wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin», sagt er.
Trotz allem: Gepusht wurde Ricardo von seinen Eltern nie. Sowohl Roberto als auch Senta betonen, dass sie ihren Sohn nie zu etwas gedrängt hätten. Ganz im Gegenteil: «Für uns wäre das Leben viel einfacher, wenn er keine Rennen fahren würde», sagt Senta.
Welchen Risiken sich ihr Sohn im Rennauto aussetzt, wurde den Fellers im vergangenen Jahr vor Augen geführt, als sich Ricardo bei einem Unfall eine Rückenverletzung zuzog und deshalb die halbe Saison verpasste. «Das war für uns wohl schwieriger als für ihn. Er wollte nur so schnell wie möglich wieder ins Cockpit», sagt Senta.
Das alles ist für Ricardo Vergangenheit. Er blickt lieber nach vorne. Nach seinem Traumziel gefragt, nennt er nicht etwa die Formel 1. Stattdessen wünscht er sich, dereinst als Werksfahrer in der DTM, der Königsklasse der Tourenwagen, zu fahren – und natürlich vom Motorsport leben zu können. «Aber mein Fokus liegt im Hier und Jetzt», sagt Ricardo.
Zurück in die Gegenwart und damit auf die Strecke in Oschersleben: In den beiden Rennen klassiert er sich zusammen mit seiner Teamkollegin Mikaela Ahlin-Kottulinsky (24) im 17. und 23. Schlussrang (wobei die Schwedin im Sonntagsrennen bis zu einem Zusammenstoss kurz vor Schluss auf Platz 16 gelegen hatte). Trotz guter Kritiken aus der Audi Sport racing academy zieht Ricardo eine durchzogene Bilanz. Beirren lässt er sich davon aber nicht.
Und wenn es einmal nicht so wie gewünscht läuft, dann lässt er sich von Hund Fritz wieder aufmuntern, der wie bei jedem seiner Renneinsätze vor dem Wohnmobil auf Ricardos Rückkehr wartet.