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Menschenrechte bei WM in Katar: SFV-Chef fordert Wiedergutmachung

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Ohne sie wäre die WM nicht möglich: Arbeitsmigranten in Katar.Bild: EPA

Fussball-WM in Katar und Menschenrechte: SFV-Chef fordert Wiedergutmachung

Bisher gehörte der Schweizerische Fussballverband in Sachen Fussball-WM in Katar nicht zu den Lautsprechern. Jetzt spricht sich der SFV für einen Wiedergutmachungsfonds für Arbeiter, die im Zuge der Arbeiten für die WM in Katar zu Schaden gekommen sind, aus.
11.06.2022, 09:3011.06.2022, 09:34
Dominic Wirth / ch media
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Sie mussten zahlen, um überhaupt einen Job zu kriegen. Mussten dann viel zu lange arbeiten, und das unter Bedingungen, die zuweilen alles andere als menschlich waren. Ein Teil von ihnen erhielt am Ende nicht einmal, was ihnen zustand: einen Lohn. Andere verletzten sich oder starben im schlimmsten Fall gar.

In weniger als sechs Monaten beginnt die Fussball-WM in Katar. Auch die Schweizer Fussballer reisen dann in das kleine Land auf der arabischen Halbinsel. Das Schicksal jener, die den Grossanlass erst möglich gemacht haben, das Schicksal vieler Arbeitsmigranten, die Stadien und Hotels gebaut haben, Strassen, Flughäfen und öffentliche Transportsysteme, wird einen grossen Schatten über das Turnier werfen.

Hunderttausende zusätzliche Arbeitsmigranten sind seit 2010 aus Ländern wie Bangladesch, Indien oder Nepal nach Katar gereist, um dort zu schuften. Sie machen im steinreichen Land die Mehrheit der Bewohner aus.

440 Millionen für die Arbeitsmigranten

Es gibt ein paar Fussballverbände, die sich schon ziemlich deutlich und sehr kritisch geäussert haben zu dieser WM in Katar. Das gilt für skandinavische Verbände, auch für den englischen und den deutschen. Der Schweizerische Fussballverband gehörte bisher nicht zu diesen Lautsprechern, er hielt sich eher im Hintergrund, zumindest kommunikativ. Jetzt wird er allmählich lauter. Doch dazu später.

Die Fifa und die Organisatoren in Katar betonen bei jeder Gelegenheit, wie sehr sich ihre Situation in den letzten Jahren verbessert hat. Tatsächlich ist im Wüstenstaat viel passiert. Seit 2017 gibt es im Arbeitsrecht ein Stundenlimit und einen garantierten freien Tag pro Woche, seit 2020 einen Mindestlohn; im gleichen Jahr wurden problematische Elemente des Kafala-Systems abgeschafft. Arbeiter dürfen jetzt ihren Job wechseln und das Land ohne Zustimmung des Arbeitgebers verlassen.

Dominique Blanc, Praesident SFV, spricht waehrend einer Medienkonferenz des Schweizerischen Fussballverbands SFV zur Strategie 2021-2025, am Donnerstag, 7. April 2022 in Muri bei Bern. (KEYSTONE/Peter ...
Dominique Blanc ist Präsident des Schweizerischen Fussballverbands.Bild: keystone

Man kann die Reformen als Fortschritte feiern, aber sie zeigen vor allem auch, wie wenig sich die Fifa zuvor für Themen wie Arbeiter- und Menschenrechte interessiert hat. «Die Fifa wusste, dass es in Katar im Zuge der Vorbereitungsarbeiten für die WM zu Menschenrechtsverletzungen kommen wird, und sie hat es in Kauf genommen, jahrelang», sagt Lisa Salza von Amnesty International. Das NGO setzt sich für diese Rechte ein – und schaut seit der WM-Vergabe im Jahr 2010 sehr genau hin, was in Katar passiert.

Auch Salza hat beobachtet, dass sich die Situation vieler Arbeiter in Katar verbessert hat. Sie sagt aber, dass die neuen Gesetze zuweilen nicht ausreichend oder gar nicht durchgesetzt werden. Und vor allem, so Salza, sei es damit bei weitem nicht getan. Amnesty International fordert zusammen mit anderen Organisationen, Gewerkschaften etwa, dass die Fifa und Katar auch für alle erlittenen Schäden einstehen, die bei Arbeiten im Zusammenhang mit der WM entstanden sind.

Kürzlich hat Gianni Infantino, der Fifa-Präsident, einen Brief in der Sache erhalten. Darin verlangen die Organisationen einen Wiedergutmachungsfonds. Die Eckdaten: Mindestens 440 Millionen Dollar an Mitteln – gleich viel, wie an der WM an Preisgeldern ausgeschüttet werden. «Die Fifa», sagt Lisa Salza, «kann sich das leisten, weil sie mit der WM etwa sechs Milliarden einnimmt.»

Das Geld soll an Arbeiter fliessen, die ihren Lohn nicht erhalten haben. Soll an Familien von Arbeitern gehen, die sich in Katar verletzten oder gar starben. Und es sollen auch Rekrutierungsgebühren zurückerstattet werden. Diese mussten hunderttausende Arbeiter zahlen, um überhaupt einen Job in Katar zu erhalten. Vor Ort waren sie dann zuerst einmal monatelang damit beschäftigt, das Geld abzustottern.

Der Fussballverband wird deutlich wie nie zuvor

Zu diesen Forderungen äussert sich nun erstmals der SFV. Dessen Präsident, Dominique Blanc, hat sich bisher hin und wieder zu Katar verlauten lassen. Meistens betonte er schnell einmal, dass ein Boykott ja nicht einmal von Organisationen wie Amnesty International gefordert werde. Dass Dialog der richtige Weg sei. Auch der Hinweis, dass die Schweiz mit sieben anderen Verbänden eine Uefa-Arbeitsgruppe gegründet hat, die sich mit den Rechten der Arbeiter befasst, fehlte nie.

Lautstarke Kritik an der WM in Katar aber ist nicht die Art des Fussballverbands und auch nicht jene von Blanc. Bis heute lässt er sich kaum ein kritisches Wort zur Fifa, Katar oder der Vergabe entlocken. Diese sei, sagt er dazu etwa, vor seiner Zeit als SFV-Präsident erfolgt.

Aber nun wird Blanc so deutlich wie nie zuvor in der Causa Katar und spricht sich für die Idee des Wiedergutmachungsfonds aus. «Alle Arbeiter, deren Würde und Grundrechte verletzt wurden, müssen entschädigt werden», sagt er.

Mehr noch: Blanc stellt sich in einer wichtigen Frage hinter Amnesty International und andere NGOs. Es geht darum, welche Arbeiter Zugang zum Fonds bekommen sollen. Dazu muss man wissen, dass jene Arbeiter, die direkt am Bau der WM-Infrastruktur – namentlich Stadien – beteiligt sind, schon seit 2014 rechtlich besser geschützt sind und etwa Rekrutierungsgebühren zurückerstattet bekommen haben.

Darauf verweist die Fifa auf Anfrage und schreibt, es seien schon über 30 Millionen Dollar bezahlt worden. Laut Amnesty International kommt aber nur ein Bruchteil der Arbeitsmigranten in Katar in den Genuss dieser Rechte – etwa zwei Prozent.

Lisa Salza findet, Anrecht auf Wiedergutmachung müssten auch alle jene Arbeitsmigranten haben, die am Bau und an der Instandhaltung von Strassen, Hotels und anderer für die WM benötigten Infrastruktur beteiligt seien. Das würde den Kreis der berechtigten Arbeiter explodieren lassen: von ein paar zehntausend auf mehrere hunderttausend.

Der Fussballverband soll ein Leader sein

SFV-Präsident Blanc sagt, auch er finde, dass grundsätzlich alle Arbeiter entschädigt werden müssten. Allerdings macht er Einschränkungen: Die Frage, wer die Wiedergutmachungsgelder bezahlen soll, müsse juristisch geprüft werden und bedürfe eines Urteils. Die geforderte Summe von 440 Millionen könne er nicht beurteilen. Auch hinter die Erstattung der Rekrutierungsgebühren setzt Blanc ein Fragezeichen.

Lisa Salza gibt sich «positiv überrascht» über den Positionsbezug des SFV-Präsidenten. Für sie ist der Fussballverband bisher zu zögerlich aufgetreten. Jetzt hofft sie, dass der SFV sich auch bei der Fifa für den Fonds einsetzt. Sie sagt: «Ich wünsche mir, dass er eine Leaderrolle übernimmt.» (bzbasel.ch)

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37 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Dave1974
11.06.2022 09:50registriert April 2020
Und in 8 Jahren darf man dann wieder lesen, dass lächerliche 30 Mio gesprochen wurden und irgendwohin geflossen sind, resp. den eigentlichen Besitzern zurückgegeben wurden?
Und was ist eigentlich mit den Familien der Verstorbenen? Entschädigt man die auch, weil die Brötchenverdiener nun nicht mehr sind?
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N. Y. P.
11.06.2022 10:29registriert August 2018
Andere verletzten sich oder starben im schlimmsten Fall gar.

Ja, dieser schlimmste Fall trat 6500x ein. In Katar gelten Menschenleben nichts. Es ist modernes Sklaventum. Stirbt einer, folgt sogleich ein neuer Sklave.

Wenn ich den SFV - Vorschlag richtig verstehe, will er Hinterbliebene der 6500 Toten nicht entschädigen.

Wer nach Katar an die WM reist, huldigt dem dortigen Régime.
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Die_andere_Perspektive
11.06.2022 10:11registriert Juli 2019
234 Menschenleben pro Match... 🤮
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