Während einer Woche erlebte die Schweiz bei den Olympischen Spielen in Tokio einen Medaillenrausch, den Schützin Nina Christen mit Bronze in der ersten Entscheidung initiiert hatte. Zur Halbzeit war das Ziel von Swiss Olympic, wie 2016 in Rio de Janeiro 7 Medaillen zu gewinnen, übertroffen. Am Ende resultierten 13 Medaillen (3 Mal Gold, 4 Mal Silber, 6 Mal Bronze), und damit bei Sommerspielen so viele wie seit 1952 in Helsinki nicht mehr. Den unbestrittenen sportlichen Höhepunkt aus Schweizer Sicht stellt der Dreifachtriumph der Mountainbike-Frauen dar: Gold für Jolanda Neff, Silber für Sina Frei und Bronze für Linda Indergand.
Erst zwei Mal in der 125-jährigen Geschichte der Olympischen Spiele der Neuzeit hatten gleich drei Schweizer alle drei Medaillen bei Olympischen Spielen gewonnen - 1924 in Paris am Pferdpauschen und 1936 in Berlin im Bodenturnen. Doch in Tokio gelang dies erstmals einem Frauen-Trio.
Dieser Erfolg steht sinnbildlich für den helvetischen Medaillenrausch in Tokio. Von den 116 ursprünglich Nominierten waren 57 Frauen, so viele wie nie zuvor. Sie gewannen 10 der 13 Medaillen, darunter alle drei Goldmedaillen von Christen, Jolanda Neff und der Tennisspielerin Belinda Bencic. Seit den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit 1986 in Athen hatten nur vier Schweizerinnen bei Olympischen Sommerspielen eine Goldmedaille gewonnen, nun kamen gleich drei dazu. Bencic war mit Christen die prägende Schweizer Figur mit Gold im Einzel und Silber im Doppel an der Seite von Viktorija Golubic.
Einen gemeinsamen Nenner für die Erfolge zu finden, fällt schwer. Jede Olympia-Medaille hat ihre eigene Geschichte. Wahrscheinlich ist, dass die Schweizer Delegation davon profitiert hat, dass die Athleten während des Lockdowns im Frühling 2020 kürzer und weniger stark im Trainingsalltag eingeschränkt waren als Athleten anderer Nationen.
Dafür, weshalb die Frauen deutlich besser abschnitten als die Männer, gibt es nicht nur eine Erklärung. Insgesamt darf die Medaillenausbeute aber als erstes Resultat der Bemühungen gewertet werden, bei der Sportförderung Geschlechtergerechtigkeit zu erreichen. Eine zentrale Rolle spielte dabei auch die Schweizer Armee. Fast die Hälfte aller Teilnehmenden leistet Militärdienst, aber erst seit 2006 ist dies auch für Frauen möglich. Die Athletinnen trainieren und nehmen dann an Wettkämpfen teil und werden besoldet, seit 2014 an bis zu 130 Tagen im Jahr. Ab 2023 wird die Kapazität der Spitzensport-RS noch einmal verdoppelt: von 70 auf 140. Viele Talente leben und trainieren in diesen 18 Wochen erstmals wie Profis.
Das zahlt sich aus. 7 der 13 Schweizer Medaillengewinner in Tokio leisten oder leisteten Dienst als Sportsoldaten oder als Zeitmilitär.
Bemerkenswert sind die Leistungen in zwei olympischen Kernsportarten. Nie zuvor war eine Schweizer Sprinterin bei Olympischen Spielen in einen Final vorgestossen, nun schafften das mit Ajla Del Ponte und Mujinga Kambundji über 100 Meter gleich zwei, die Bernerin stand zudem auch über 200 Meter im Final. Die Ränge fünf und sechs sowie der vierte Platz der 4x100-Meterstaffel gehören zu den Schweizer Sternstunden in Tokio. Wie auch die beiden Bronzemedaillen von Jérémy Desplanches und Noè Ponti. Zuvor hatte die Schweiz erst einmal bei Olympischen Spielen eine Medaille im Schwimmen gewonnen: 1984 durch Etienne Dagon.
Medaillen gewannen Tessiner und Romands, Deutschschweizer und im Ausland lebende Schweizerinnen und solche mit Migrationshintergrund. Für die Schweiz waren es die Olympischen Spiele der Vielfalt. Geschlecht, Sprache, Hautfarbe, Herkunft und Alter mögen uns unterscheiden, aber sie trennen uns nicht. Selten zuvor war die viel zitierte verbindende Kraft des Sports zutreffender als in diesem Schweizer Sportsommer für die Ewigkeit, zu dem auch die Fussballnationalmannschaft beitrug.
Selbstverständlich gab es nicht nur Sieger, sondern auch Verlierer. Allen voran die Leichtathleten Alex Wilson und Kariem Hussein, die wegen einer positiven Dopingprobe gar nicht erst nach Tokio reisen durften. Ihnen und der Schweizer Delegation spielte in die Karten, dass ihre Fälle nur kurz für Schlagzeilen sorgte - ehe sie im Grundrauschen der Erfolgsmeldungen wieder untergingen. Enttäuscht haben auch die Reiter und die Fechter.
Tokio wird dereinst auch als Zeitenwende in die Sportgeschichte Eingang finden, weil sie das Ende für die prägendsten Schweizer Figuren der letzten Jahrzehnte darstellen: Nicola Spirig holte noch einmal zwei Diplome, Giulia Steingruber enttäuschte. Roger Federer und Stan Wawrinka waren gar nicht erst angereist. Es ist kaum vorstellbar, dass sie 2024 in Paris teilnehmen. Überschattet wurden die Erfolge von einem Unfall, bei dem sich Jet Set, das Pferd des Reiters Robin Godel, einen Bänderriss zugezogen hatte und danach eingeschläfert werden musste.
International gesehen waren zwei Schwimmer die Überflieger: der Amerikaner Caeleb Dressel gewann fünf Mal Gold, die Australierin Emma McKeon holte vier Mal Gold und drei Mal Bronze. Als grosse Figuren auserkoren gewesen waren die japanische Tennisspielerin Naomi Osaka, die in der dritten Runde scheiterte, und die US-Turnerin Simone Biles, die «nur» Silber und Bronze gewann, weil sie wegen psychischer Probleme auf mehrere Wettkämpfe verzichtete, damit aber zur Enttabuisierung und Stigmatisierung psychischer Erkrankungen beitrug.
Olympische Spiele sind, ob man das wahrhaben will oder nicht, immer auch die Bühne der Weltpolitik. Das zeigte der Fall der Sprinterin Kristina Timanowskaja, die der belarussische Autokrat Viktor Lukaschenko mutmasslich entführen wollte, ehe die japanischen Sicherheitsbehörden und das Internationale Olympische Komitee sie erst in die polnische Botschaft brachten und sie danach nach Wien ausreiste, wo sie ein humanitäres Asyl beantragen will. Für Diskussionen sorgte auch die Kugelstosserin Raven Saunders, die bei der Siegerehrung mit gekreuzten Armen zu Solidarität für Menschen für unterdrückte Menschen aufrief. Saunders ist in der Heimat als Aktivistin für die Anliegen der People of Color und gegen die Diskriminierung der sexuellen Orientierung bekannt.
Doch es lässt sich festhalten, dass diese Olympischen Spiele erstaunlich unpolitisch waren. Zu erklären ist das vor allem damit, dass diese wegen der Pandemie-Lage umstritten waren und in Japan auf breiten Widerstand trafen. Sich darin sonnen zu wollen, birgt Risiken. Zu Protesten kam es zwar, aber diese hielten sich dann doch in überschaubarem Rahmen. Noch nicht abschliessend und vielleicht nie ganz zu beantworten ist die Frage, ob die Pandemie-Spiele wie vielfach befürchtet zu einem Superspreader-Event wurden. Die aktuellsten Zahlen deuten eher nicht darauf hin,
Und so bleiben diese Olympischen Spiele aus Schweizer Sicht vor allem als Spiele des Medaillenrauschs in Erinnerung. (aargauerzeitung.ch)