Und wo waren Sie an diesem Tag? Ereignisse von historischer Bedeutung bleiben uns im Gedächtnis haften, und wir wissen immer, was wir an diesem Tag gemacht haben. So ein Tag wird der Sonntag, 23. November 2014.
Noch nie hat die Schweiz in einer Mannschafts-Weltsportart – also einem Sport, der auf allen Kontinenten eine Bedeutung hat – den höchsten, den ultimativen Titel geholt. Nahe dran waren wir auch im 21. Jahrhundert schon. Etwa am 19. Mai 2013. Als wir den Hockey-WM-Final gegen Schweden 1:5 verloren. Nach einer 1:0-Führung.
Weltmeister waren wir weder im Eishockey noch im Fussball (ausser bei den Junioren), im Handball oder im Basketball. Curling, Faust- und Radball oder den America’s Cup zählen wir nicht zu den Mannschafts-Weltsportarten.
Am 23. November 2014 können die Schweizer den Davis Cup gewinnen. Den Mannschafts-Wettbewerb im Weltsport Tennis. Drei Varianten sind möglich, alle für die Ewigkeit. Eine dramatische, eine logische und eine heroische – sofern nicht noch einer der Spieler aus gesundheitlichen Gründen ersetzt wird. Was bis eine Stunde vor Spielbeginn möglich ist.
Roger Federer verliert gegen Jo-Wilfrid Tsonga und Stan Wawrinka gegen Gaël Monfils. Es wäre eines der ganz grossen Dramen unserer Sportgeschichte. Noch in 50 Jahren würden wir uns an diesen verpassten Triumph erinnern. Und darüber debattieren, ob es klug war Roger Federer und Stan Wawrinka fürs Doppel zu nominieren und ob es nicht besser gewesen wäre, beide für die Einzel vom letzten Tag zu schonen und dafür Michael Lammer und Marco Chiudinelli im Doppel einzusetzen.
Davis Cup-Captain Severin Lüthi, der Mann, der zumindest theoretisch die Aufstellungen macht, aber kaum wahrgenommen wird, würde auf einmal seinen Platz in unserer Sportgeschichte bekommen. Als tragischer Tennis-General.
Roger Federer besiegt Jo-Wilfrid Tsonga. Weltstar Roger Federer, und nicht Stan Wawrinka sichert den historischen Triumph. So wie es die meisten erwartet haben.
Roger Federer verliert gegen Jo-Wilfrid Tsonga und Stan Wawrinka holt im fünften und letzten Match den Sieg und den Davis Cup. Nicht die Lichtgestalt Roger Federer sichert den historischen Triumph. Sondern der Mann, der auf immer und ewig in seinem Schatten lebt. Stan Wawrinka würde zwar weiterhin in diesem Schatten leben – aber für einen Tag daraus hervortreten und ein Held für einen Tag sein.
Die Schweiz hat in ihrer Davis-Cup-Geschichte (seit 1923) 36-mal 2:1 geführt und 33-mal anschliessend auch gewonnen. Aber es ist nicht nur die Statistik, die für die Schweiz spricht. Es ist die einmalige Kombination aus Genie und Energie, Spiel und Arbeit, Kreativität und Präzision, Entschlossenheit und Gelassenheit. Und dazu das Selbstvertrauen, das Helden in ganz besonderen Situationen über sich hinauswachsen lässt.
Diese Mischung war im Doppel unbesiegbar. Stan Wawrinka hatte so viel Energie, dass er sogar Roger Federer mitzureissen vermochte. Roger Federer steuere die Prise Genialität bei, die Stan Wawrinka fehlte.
Hat je ein Schweizer Team auswärts ein Spiel auf allerhöchstem Niveau, ein Spiel, bei dem es um den Welttitel geht, ein Spiel das für den Gegner eine Sache der nationalen Ehre ist, ein Spiel, bei dem der Staatspräsident auf der Tribune sitzt, so dominiert wie Roger Federer und Stan Wawrinka dieses Doppel gegen Julien Benneteau und Richard Gasquet? Wahrscheinlich nicht. Deshalb ist es einer der grössten Siege aller Zeiten.
Die Franzosen nennen dieses Finale «L`Ultime Combat». Was wörtlich übersetzt heisst: «Kampf bis zum Letzten». So wichtig nehmen sie dieses Endspiel, dass sie es dermassen martialisch bezeichnen. «L`Ultime Combat». So steht es auf allen Plakaten. Aber vielleicht wird es bloss ein «Kampf bis zum Zweitletzten». Wenn Roger Federer das vierte, das zweitletzte Spiel in diesem Finale gewinnt.