Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebt der Kügelibahn-Sport ein erstes Popularitätshoch. Murmeln sind günstig und daher als Spielzeug beliebt. Klein und Gross wetteifern mit Glaskugeln, regelmässig füllen die Matches der semiprofessionellen New York Marble League den Madison Square Garden. Parallel beginnt auch in der Musik der Siegeszug des Rock'n'Roll. Vom Schweizer Cupfinal 1954 im Wankdorf-Stadion ist die Zahl von 44'300 Zuschauern überliefert. Weinfelden schlägt den Sportklub Olten in einem ereignisarmen Spiel 2:0.
Im Jahr darauf trifft sich die Weltelite in Österreich. Die Rekordzahl von 17 Mannschaften nimmt an der Kügelibahn-WM 1955 teil, die in Wien, Bregenz, Klagenfurt, Krems, Salzburg und St.Pölten ausgetragen wird. Auch die Schweiz hat sich angemeldet, als EM-Dritter 1953 und dank einer «gesunden Mischung aus jugendlicher Frische und besonnerer Routine» (Zitat aus der «Chügeli-Revue») haben viele Beobachter das Schweizer Team auf der Rechnung.
Angeführt von ihrem Captain Heiri Grossenbacher vom Serienmeister Bad Ragaz meistern die «Kugelgenossen» die Gruppenphase beinahe makellos. Nur gegen die Tschechoslowakei verpasst sie beim 2:2 den Sieg, aber gegen die USA, Belgien und das Saarland setzt sie sich durch. Rad-Weltmeister Ferdy Kübler schwärmt in der «Schweizer Illustrierten» von seinem neuen Lieblingssport: «So trete ich im Training noch härter in die Pedalen, damit ich rechtzeitig für die Radioübertragung der Schweizer Spiele wieder zuhause bin.»
Im Viertelfinal wird Giancarlo «Tschanggi» Antognioli, ein erst 20-Jähriger aus dem Verzascatal, zum Helden. Gegen das oft als brutal auftretende Chile gelingt dem Tessiner, der in Zürich studiert und bei den Grasshoppers spielt, ein Hattrick.
Das italienische Fachblatt «Mondo Biglia» schwärmt über Antognioli: «So etwas hat männiglich noch selten gesehen, zumal auf der grössten Bühne, die der wunderbare Kugelsport zu bieten hat.» Natürlich wünscht es sich, einen Spieler dieses Kalibers bald in der Serie A zu sehen: «Wie unser Korrespondent des WM-Turniers vernahm, sollen sich Herrschaften von Rimini und der AC Milan nach seinen Diensten erkundigt haben.»
Letzlich wird Antognioli seine Laufbahn schon mit 23 Jahren beenden, um nach dem Studium ins Verzascatal zurückzukehren. Dort macht er sich einen Namen als treibende Kraft beim Bau des Staudamms.
Nach dem 4:1-Erfolg über Chile steht die Schweiz im Halbfinal, wo Österreich wartet. Der Turniergastgeber kam nur dank viel Mauschelei der Offiziellen so weit und kann der Schweiz normalerweise nicht das Wasser reichen. Doch in Klagenfurt entwickelt sich ein packender Schlagabtausch – nicht weniger als vier Mal wechselt die Führung vom einen zum anderen Team. Am Ende setzt sich die Schweiz glücklich und zur Bestürzung der Einheimischen mit 7:5 nach Verlängerung durch.
Das ist umso bemerkenswerter, als in der Hitzeschlacht am Wörthersee der routinierte Schweizer Verteidiger Ruedi Günthör schon früh einen Sonnenstich erleidet und nur noch teilnahmslos auf dem Feld herumirrt. Günthörs Enkel Werner wird gut drei Jahrzehnte später auch zu einem Schweizer Kugelhelden, als er Weltmeister im Kugelstossen wird.
Die Schweiz steht erstmals im Final einer Kügelibahn-WM. Gold ist nah, Zuversicht und Selbstvertrauen sind gross. Zudem hat sich das Team dank einer offensiven Spielweise auch in die Herzen der neutralen Zuschauer gespielt. «Ich kann Ihnen versichern, meine Herren, dass Wien hinter Ihnen stehen wird», sagt der Schweizer Botschafter Jacques F. Rechaud bei einem feierlichen Empfang der Mannschaft am Abend vor dem Endspiel.
Wie bereits in der Vorrunde heisst der Gegner erneut Tschechoslowakei. Das Praterstadion platzt schier aus allen Nähten, fast 80'000 Zuschauer wollen sich den Leckerbissen an diesem sonnigen Sonntagnachmittag nicht entgehen lassen. Die Organisatoren fahren ganz grosses Geschütz auf, die Nationalhymnen singt Caterina Valente, deren «Ganz Paris träumt von der Liebe» gerade die Hitparade anführt.
Die Tschechoslowaken gehen als knapper Favorit ins Spiel. Schliesslich hatten sie 1951 die erste WM nach dem Krieg gewonnen und diesen Titel wollen sie nun verteidigen. Ausserdem durften sie alle ihre Spiele in Wien bestreiten, wo sie Knödel und Gulasch wie in der nahen Heimat geniessen konnten. Rechtzeitig vor dem Turnier wurde auch der Streit zwischen den beiden Leithammeln Jiri Hlavacek und Josef Pospisil beigelegt, ein Streit, dessen Auslöser eine gemeinsame Geliebte war, die sich tragischerweise in die Moldau stürzte.
Der WM-Final beginnt fulminant. Jungstar Antognioli gleicht die tschechoslowakische Führung noch im Startdrittel aus, der häufig unterschätzte Kurt Hämmerli erhöht mit einem Doppelschlag, doch nach 20 Minuten steht es 3:3. Im zweiten Abschnitt fallen keine Tore. Und nun sind es wieder die Osteuropäer, die in Führung gehen. Hlavacek lässt mit seinem Solo die Schweizer Abwehr alt aussehen. Es folgt die 53. Minute – und DIE Szene, welche die Kügelibahn-Szene bis heute in zwei Lager trennt.
Captain Heiri Grossenbacher tankt sich auf dem rechten Flügel durch. Er zieht auf das gegnerische Tor zu, wird allerdings noch vom Gegenspieler Ladislav Novak festgehalten. Grossenbacher strauchelt, rafft sich nochmals auf, rollt weiter im heiligen Zorn aufs Tor zu und im vollen Umfang über die Torlinie. Das 4:4!
Oder eben doch nicht. Denn nun kommt es zu wütenden Protesten. Die Tschechoslowaken drohen mit einem Sitzstreik, sollte der Treffer zählen. Aus ihrer Sicht hat Novak die Kugel noch rechtzeitig am Überqueren der Torlinie gehindert.
Schiedsrichter Günther Krabelhuber, ein schnauzbärtiger Polizeiwachtmeister aus dem unterfränkischen Aschaffenburg, bespricht sich eifrig mit seinem Assistenten. Zwar sind Zeitzeugen davon überzeugt, dass der schwedische Zahnarzt Dr. Alban Rappersson sich just im fraglichen Moment zu einer schönen Zuschauerin umgeschaut hat. Doch gegenüber Krabelhuber bekräftigt Rappersson mit kräftigem Nicken, dass Novak noch rechtzeitig geklärt hat. Kein Tor. Weiter 4:3 für die Tschechoslowakei.
«Sie können mich auf dem Sterbebett nochmals fragen. Ich werde Ihnen auch dann bestätigen, dass ich im Tor war», ereifert sich Grossenbacher gegenüber einem Chronisten. Dieser betont den ehrenwerten Charakter des Schweizer Captains, der «in seinem Wesen alles andere als ein Mann der Polemik» sei. Ein halbes Jahrhundert später, im Herbst 2003, stellt die Universität in Neuenburg mittels Computersimulation fest, dass Grossenbacher die Linie um volle zwölf Millimeter überschritten hatte.
Der Entscheid wirft die Schweizer Equipe aus der Bahn. Sie kassiert nur eine Minute später das 3:5 und damit ist die Hoffnung gestorben, dass sie erstmals den Weltmeistertitel gewinnen kann. «Es ist schwierig, wenn der Gegner zu sechst spielen kann», nimmt der «Schweizer Sport» kein Blatt vor den Mund. Verärgerte Anhänger bewerfen die Fassade der tschechoslowakischen Botschaft in Bern mit Eiern, empörte Politiker fordern ein Handelsembargo gegen Bayern, wo der Schiedsrichter herkommt.
Der verhinderte Weltmeister Heiri Grossenbacher beendet seine Laufbahn nach dem Turnier. Dessen dramatischer Ausgang endet in einer persönlichen Tragödie. Zwar kann er zwei Mal hintereinander das Käserollen in der englischen Grafschaft Gloucestershire für sich entscheiden. Doch das tröstet Grossenbacher nicht über den verpassten Triumph in Wien hinweg. Immer häufiger ist er nun Gast in Wirtshäusern und Spelunken. Er ist erst 33 Jahre alt, als seine Leber nicht mehr mitmacht.
Einem WM-Titel kommt die Schweizer Kügelibahn-Nationalmannschaft nie mehr so nahe.
Als der auf der Welt führende Kügelisport - Experte hatte er vor 18 Monaten einen fixfertigen Vertrag auf seinem Tisch. Absender: New York Times.
Der NYT fehlt(e) nämlich ein Experte auf diesem Gebiet.
Und Ralf Meile widerstand dem Angebot.
Begründung: Den abgeranzten Charme in der watson- Küche würde er zu sehr vermissen . Wenn am Montag morgen die eingetrockneten Kaffeetassen gelangweilt in der Spüle liegen, das Puff auf den Pulten, der Tratsch in den Gängen..
Nein, watson ist sein Zuhause !
Danke Ralf.
Danke Ralf, grosses Kino!