Wer am Abend des 25. Mai 2011 die Abschlusstabelle der Challenge League konsultiert, stellt fest: Es ging eng zu und her. Die ersten vier Teams sind nur durch fünf Punkte getrennt. Aber eine Tabelle allein erzählt selten eine Geschichte.
Um diese zu erzählen, ist ein Blick zurück nötig. Wenige Wochen vor dem Saisonende sieht alles nach einem Aufstieg des FC Lugano aus. Zumindest die Barrage scheint den Tessinern sicher, denn nur der FC Vaduz kann ihnen einigermassen folgen. Mitte April sind noch sieben Runden zu spielen und Luganos Vorsprung auf das Duo Servette und Lausanne auf den Rängen 3 und 4 beträgt komfortable 14 Punkte.
Doch dann geschieht, was niemand für möglich hält. Lugano, das zwischen November und April zwölf Spiele in Folge gewonnen hat, kriegt plötzlich kein Bein mehr vors andere. Und die beiden welschen Klubs kämpfen sich ins Aufstiegsrennen zurück.
Mit einer 1:2-Heimniederlage gegen Stade Nyonnais beginnt Luganos Niedergang. Es ist die erste von fünf Niederlagen in Folge. Panik ergreift die Klubführung nach einem 0:2 in Aarau. «Wir machen bis zum Schluss mit Trainer Marco Schällibaum weiter», sagt Präsident Angelo Renzetti zwar nach der Niederlage zum «Blick». Tags darauf leitet Schällibaum noch das Morgen-Training, aber am Nachmittag wird er gefeuert und durch Roberto Morinini ersetzt. Da ist Lugano immer noch Leader.
«Einmal mehr zeigte sich, dass Panik in der Regel ein schlechter Ratgeber ist», schreibt wenig später die NZZ. Denn mit Morinini wird es nicht besser, ganz im Gegenteil: Im Cornaredo folgt im ersten Spiel nach dem Trainerwechsel ein 0:6 gegen Servette. «Von allen abertausend verfügbaren Fussball-Lehrern dieser Welt stellte der Präsident Roberto Morinini ein. In Luzern und Genf, wo der ‹Professor› kläglicher kaum hätte scheitern können, verursacht dieser Name heute noch Albträume.»
Dabei, und das ist das verrückte in dieser Challenge-League-Saison, steht nicht nur Lugano neben den Schuhen. Servette verliert nach seinem Sieg in Lugano überraschend gegen Locarno, Vaduz bricht – auch wegen Verletzungen mehrerer Stammspieler – ein und kassiert etwa ein 0:5 gegen Wohlen. «Lausanne und die Dilettanten», titelt deshalb die NZZ, denn die Waadtländer sind zwei Runden vor Schluss plötzlich Tabellenführer.
Der Rückstand von einst 14 Punkten ist wettgemacht. «Wir haben immer daran geglaubt, dass wir es schaffen können. So bizarr das auch klingen mag», betont Lausanne-Trainer Martin Rueda. Bizarr sind auch die Szenen nach Luganos Heimspiel gegen Wohlen in der zweitletzten Runde. Nach einem mageren 1:1 rutscht Lugano auf Rang 3 ab, weil Servette gegen Chiasso siegt.
Die Genfer ziehen vorbei – und in Lugano eskaliert die Situation. Rund zwei Dutzend Anhänger stürmen nach dem Abpfiff den Rasen, werfen dort mit Pyro um sich, treten auf Werbebanden ein und wollen den eigenen Spielern an die Wäsche gehen. «Die Polizei antwortete mit dermassen viel Tränengas und Pfefferspray, dass die eingekesselten Zuschauer auf der Haupttribüne in einen kollektiven Schockzustand und Atemnot gerieten», schreibt die «Aargauer Zeitung». Wohlens Präsident Andy Wyder muss sich «minutenlang den schicken Veston vor das Gesicht halten, um nicht zu ersticken.»
Vor der letzten Runde liegt Lausanne drei Punkte vor dem Duo Servette/Lugano, die Genfer haben das beste Torverhältnis der drei Teams. Lausanne lässt es nicht darauf ankommen, es siegt in Biel mit 4:0 und steigt auf. Neun Jahre nach dem Zwangsabstieg und einem Neuanfang in der 2. Liga Inter ist der siebenfache Meister zurück im Oberhaus.
Der Barrage-Platz geht an Servette, das 2:0 in Yverdon gewinnt. So nützt Lugano ein 3:1-Sieg in Delémont nichts mehr. Wegen des deutlich schlechteren Toverhältnisses bleibt nach einem epochalen Einbruch zum Saisonende hin nur Rang 3.
Luganos Captain Philippe Montandon spricht von einer riesigen Enttäuschung. Der Zürcher hält im «Zürcher Oberländer» fest, dass die Unruhe im Klub-Umfeld ein wesentlicher Grund für das Aus war; kurz nach Trainer Schällibaum bekam auch Sportchef Domenico Teti die Kündigung. «Die Unruhe darf keine Ausrede für den Misserfolg sein, letztlich stehen wir Spieler auf dem Platz», sagt Verteidiger Montandon. «Doch die Umstände waren sehr unpassend, zumal alles öffentlich ausgetragen wurde.»
Während Lugano im dritten Jahr in Folge knapp den Aufstieg verpasst – davor scheitern sie zwei Mal in der Barrage – jubelt neben Lausanne am Ende auch Servette. Die Genfer kehren dank eines Barrage-Erfolgs gegen Bellinzona nach ihrem konkursbedingten Abstieg sieben Jahre zuvor ebenfalls in die Super League zurück. Es ist das Ende einer Challenge-League-Saison, die wegen ihrer aussergewöhnlichen Endphase in die Geschichte eingeht.