Der 27-jährige Michi Schär ist Veloprofi, aber keiner der glamourösen Sorte. In seinen mittlerweile neun Jahren als Berufsfahrer hat er nie ein internationales Rennen gewinnen können; sein einziger Sieg war an der Schweizer Meisterschaft 2013. Schärs Job ist es, die Leader seines BMC-Teams sicher durchs Feld zu patrouillieren, ihnen Bidons zu holen, Fluchtgruppen zu stellen. Wenn der fast zwei Meter lange Luzerner in die Pedalen tritt, führt er das Feld oft während Kilometern an, um Ausreisser wieder einzuholen.
In der Nacht auf Mittwoch (Schweizer Zeit) war für einmal Schär in der Rolle des Flüchtlings. Gemeinsam mit fünf anderen Fahrern – darunter der Deutsche Jens Voigt – war er schon kurz nach dem Start der 210 Kilometer langen 2. Etappe der Tour of Utah ausgerissen. Ein Fluchtkollege nach dem anderen verlor den Anschluss, bis Schär im letzten Anstieg schliesslich solo unterwegs war – noch rund 60 Kilometer fehlten bis ins Ziel.
Was folgte, war ein Wechselbad der Gefühle. «Bei der Bergpreiswertung fühlte ich mich noch sehr gut, ich hatte rund vier Minuten Vorsprung», sagte Schär im Ziel. «Dann hatte ich plötzlich Krämpfe. Es waren die schlimmsten in meinem ganzen Leben!» Er habe die Etappe in neuen Schuhen fahren müssen, weil sein üblicher vor dem Start kaputt gegangen sei. Die Schuhplatte sei zwar höchstens um Millimeter anders eingestellt gewesen als sonst, «aber nach 200 Kilometern macht das eben viel aus.»
«Einen Kilometer vor dem Ziel dachte ich: ‹Ja, ich kann es schaffen!›, aber es war so hart. Ich kroch förmlich in Richtung Ziellinie.» Er habe ganz einfach alles gegeben, was noch in seinem Körper gesteckt habe: «Ich hätte mit den Ohren gewackelt, wenn das auch noch etwas genützt hätte.»
If @thejensie could not do it from the breakaway I am super happy for my buddy @michaelschaer win his first real pro race! #tourofutah
— Gregory Rast (@gregory_rast) 5. August 2014
500 Meter vor dem Ziel habe er wegen eines neuerlichen Krampfes sein linkes Bein kaum mehr bewegen können. «Zum Glück kam die Ziellinie dann etwas früher, als ich gedacht hatte. Ich versuchte, die letzten Meter zu geniessen, aber ein grosser Genuss war es nicht – ich spürte überall nur noch Schmerzen.»
Um wenige Meter gelang es Schär, das heranspurtende Feld zu schlagen. In Torrey (Utah) erlebte er den vermutlich schönsten Tag seiner Karriere – wenn es auch einer mit ganz viel Schmerzen war.