Als Donghua Li 17 Jahre alt ist, erklärt ihm ein chinesischer Arzt, dass er keine Kinder zeugen und nie mehr Sport treiben könne. Jahrzehnte später ist der Schweizer mit chinesischen Wurzeln zweifacher Vater und kann auf eine äusserst erfolgreiche Turnkarriere zurückblicken.
Donghua Li kommt 1967 im chinesischen Chengdu zur Welt. Im Alter von sieben Jahren tritt er in ein Internat ein, wo er erste Gehversuche im Kunstturnen unternimmt. Sein aussergewöhnliches Talent zeigt sich bereits früh, weshalb er 1983 in das chinesische Nationalkader berufen wird.
Die noch junge Karriere gerät jedoch durch zahlreiche Verletzungen mehrmals in Gefahr. 1984 verliert Li nach einem Sturz am Pferdesprung die Milz und die linke Niere, zwei Jahre später reisst er sich bei einer Bodenübung beide Achillessehnen. Acht Monate vor den Olympischen Spielen in Seoul 1988 stürzt Li am Barren und kann deshalb nicht an den Spielen teilnehmen.
Zumindest aus Schweizer Sicht hat diese letzte Verletzung auch eine positive Wirkung: Im gleichen Sommer trifft Donghua Li in Peking auf die Schweizer Touristin Esperanza Friedli, welche er kurz darauf heiratet. Im Jahr 1989 zieht Li mit ihr in die Schweiz. Als Ausländer darf er jedoch keine internationalen Wettkämpfe bestreiten – und auch auf nationaler Ebene werden ihm Steine in den Weg gelegt.
Li gewinnt bis 1993 sieben Titelkämpfe an den Schweizer Meisterschaften (4x Pferd, 2x Ringe, 1x Mehrkampf), aufgrund teils kurzfristiger Reglementsänderungen bleibt ihm die Auszeichnung als «Schweizer Meister» jedoch vorenthalten. Am eidgenössischen Turnfest 1991 wird Donghua Li durch die Kampfrichter auf den zweiten Rang degradiert, auch wenn er wohl der verdiente Sieger gewesen wäre.
Am 29. März 1994 nimmt Donghua Lis Karriere eine entscheidende Wende: Der zu diesem Zeitpunkt bereits 26-Jährige erwirbt das Schweizer Bürgerrecht und damit die Berechtigung zur Teilnahme an Wettkämpfen auf internationalem Parkett. Das erste Edelmetall lässt nicht lange auf sich warten: Noch im selben Jahr holt er sich am Pferd WM-Bronze, 1995 doppelt er in der gleichen Disziplin mit dem Weltmeistertitel nach. In beiden Jahren gewinnt er zudem die Schweizer Meisterschaften in Mehrkampf und Pferd und darf sich dadurch auch offiziell «Schweizer Meister» nennen.
Der Höhenflug des Ausnahmetalents setzt sich im Olympiajahr 1996 nahtlos fort: Innert kürzester Zeit erringt Donghua Li Silber an der Weltmeisterschaft und krönt sich zum Europameister – natürlich in seiner Paradedisziplin, dem Pauschenpferd.
Doch der Höhepunkt des Turnjahres steht noch bevor: Die Olympischen Sommerspiele in Atlanta (USA). Der mittlerweile 28-jährige Li ist bei seiner Olympia-Premiere mit Abstand der älteste Turner, gleichwohl zählt er zu den grössten Schweizer Medaillen-Hoffnungen.
Nachdem er 1988 die Sommerspiele in Seoul aufgrund einer Verletzung verpasste und 1992 in Barcelona kein Land hatte, für das er hätte teilnehmen können, bietet sich Donghua Li endlich die Chance, seine fantastische Karriere mit Olympiagold zu krönen.
Der Schweizer kommt im Pauschenpferd-Final als fünfter von acht Athleten an die Reihe und muss zunächst zusehen, wie seine grössten Konkurrenten die Messlatte hoch ansetzen. Alexei Nemow aus Russland wird mit starken 9,787 Punkten bewertet, der Rumäne Marius Urzica überbietet diesen Wert gar noch und greift mit seinen 9,825 Punkten nach der Goldmedaille.
Doch Donghua Li gelingt eine perfekte Vorstellung. Vor den Augen seiner schwangeren Frau turnt sich der Schweizer zu 9,875 Punkten – ein Wert, den auch die beiden nachfolgenden Athleten nicht übertreffen können. Bleibt nur noch Éric Poujade: Der Franzose scheint Li die Spitzenposition mit einem fehlerfreien Auftritt streitig zu machen, rutscht dann jedoch ab und stürzt vom Pferd. Donghua Li darf sich nicht nur Welt- und Europameister, sondern auch Olympiasieger nennen!
Im November 1996, nur wenige Wochen nach dem Olympiasieg, tritt Donghua Li im Alter von beinahe 29 Jahren vom Wettkampfsport zurück. Kurz darauf wird er zum «Schweizer Sportler des Jahres» gewählt. Diese Auszeichung ist für ihn, den lange Zeit Unerwünschten, der versöhnliche Abschluss einer bewegten Karriere.