Die Ausraster von Lothar Matthäus sind legendär. Insbesondere als Trainer und TV-Experte hat er sich mit einigen Aussetzern und nicht gerade überzeugendem Englisch in unser Gedächtnis eingebrannt.
Doch schon als Spieler konnte sich «Loddar» nicht immer zurückhalten. So auch an diesem Novembertag 1994, als er von einer «Frechheit», einer «Sauerei», einem «Beschiss» spricht und sagt: «Der Schiri muss eine Super-Prämie vom KSC bekommen.» Dabei hätte sein 350. Bundesliga-Spiel eigentlich den Rahmen für ein würdiges Jubiläum bilden sollen. Aber es kommt anders.
Soeben hatten seine Bayern in den Schlussminuten den Sieg gegen Karlsruhe aus der Hand gegeben und das 2:2 kassiert, als Matthäus noch auf dem Platz zum Live-Interview gebeten wird. Schon bevor die erste Frage gestellt ist, sieht man, dass der Mittelfeldspieler hier gleich lospoltern wird.
Und tatsächlich lässt er den Reporter gar nicht ausreden: «Da müssen wir doch gar nicht mehr darüber reden. Das ist doch eine Frechheit, was der pfeift. Gelbe Karten für uns, Rote Karten für uns, der Freistoss, der keiner war. Der pfeift doch alles gegen uns.» Gemeint ist WM-Schiedsrichter Hellmut Krug.
Doch vielleicht musste einfach nur der Frust raus, der sich über die letzten Wochen angestaut hatte. Denn so schlecht wie in der Saison 1994/1995 werden die Bayern eine Bundesliga-Saison danach nie mehr abschliessen. Am Ende muss sich der Titelverteidiger mit Rang 6 begnügen. Hinter Meister Dortmund, Werder Bremen, dem SC Freiburg, Kaiserslautern und Mönchengladbach.
Dabei ereignet sich der absolute Tiefpunkt der Saison schon im August, kurz vor dem Meisterschaftsstart. In der 1. Runde des DFB-Pokals – beim Pflichtspiel-Debüt von Oliver Kahn für den Rekordmeister – scheitert die Startruppe von Giovanni Trapattoni mit Jorginho, Thomas Helmer, Mehmet Scholl, Lothar Matthäus und Jean-Pierre Papin an den Amateuren des TSV Vestenbergsgreuth mit 0:1.
Auch in der Meisterschaft kommt die Equipe nicht auf Touren. Nach 13 Runden steht der grosse Favorit nur auf Rang 7. Und jetzt geht die Reise zum Karlsruher SC.
Nach einer ereignisarmen ersten Halbzeit überschlagen sich die Ereignisse zu Beginn des zweiten Abschnitts. Dieter Frey bringt die Gäste aus München in der 49. Minute in Führung. Postwendend gleicht Edgar Schmitt aus, aber nur drei Minuten später führen die Münchner wieder. Alain Sutter, der eine starke Partie zeigt, legt für Markus Schupp auf und dieser trifft zum 2:1.
Vier Minuten später wird Sutter ausgewechselt und sieht von der Bank aus, wie seine Kollegen den Vorsprung bis kurz vor Schluss mehr oder weniger souverän verteidigen. Es droht die erste KSC-Heimniederlage seit September 1993. Doch in der 89. Minute wird es im ausverkauften Wildpark-Stadion hektisch.
Bayerns Samuel Kuffour verletzt sich bei einer Aktion und muss das Spielfeld verlassen, um sich draussen pflegen zu lassen. In der Zwischenzeit foult Michael Sternkopf am eigenen Strafraum Slaven Bilic. WM-Schiedsrichter Hellmut Krug entscheidet auf Freistoss für den KSC – eine strittige Entscheidung.
Während der Unparteiische die Mauer stellt, winkt Kuffour heftig an der Seitenlinie. Er will wieder rein. Da Krug ihn aber nicht sieht, stürmt der Ghanaer irgendwann einfach auf den Platz. Jetzt wird er vom Spielleiter entdeckt – und gleich wieder rausgeschickt. Denn Krug zeigt dem 18-Jährigen regelkonform die Gelbe Karte, weil er sich nicht ordnungsgemäss angemeldet hat. Da es die zweite Verwarnung ist, muss Kuffour unter die Dusche.
Man hätte etwas mehr Fingerspitzengefühl von einem Spitzenschiedsrichter erwarten können, sind sich alle einig. Bayerns Franz Beckenbauer bezeichnet die Regel als «dümmste, die es überhaupt gibt», und selbst KSC-Trainer Winnie Schäfer will die Wogen danach glätten: «Der hätte den Kuffour vom Feld schicken sollen, um ihn dann offiziell wieder am Spiel teilnehmen zu lassen.»
Es kommt allerdings noch dicker für die Bayern. Eberhard Carl zirkelt das Leder beim Freistoss an der Mauer vorbei zum 2:2 ins Netz und Markus Schupp sieht wenig später nach einem Foul ebenfalls noch Gelb-Rot. Carl jubelt: «Der Kahn hat die Mauer für einen Linksfüsser gestellt.» Erst im Sommer hat der junge Keeper den KSC verlassen und sich den Bayern angeschlossen. Er hat Manfred Bender als Schütze erwartet.
Trainer Giovanni Trapattoni mag nach der Partie nichts mehr sagen und erscheint nicht an der Pressekonferenz. Er lässt den Grund ausrichten: «Wenn ich etwas sage, riskiere ich eine 100-jährige DFB-Sperre.» Kein Blatt vor den Mund nimmt Beckenbauer, der den Referee hart attackiert und ihm empfiehlt, das nächste Mal lieber an einer Schüler-WM zu pfeifen.
Noch einen obendrauf setzt Matthäus, der vor Wut kocht und nach dem Schlusspfiff erst auf KSC-Vizepräsident Ulrich Heynig losstürmt: «Habt ihr den Schiri heute gekauft?» Dann erscheint er zum besagten Live-Interview und doppelt nach: «So etwas habe ich in den 15 Jahren meiner Karriere noch nie erlebt.» Ob denn wirklich nur der Schiedsrichter schuld gewesen sei, wagt der Reporter noch zu fragen: Alleine Matthäus' Blick gibt eine unmissverständliche Antwort.
Dass seine Aussagen Folgen haben könnten, ist ihm durchaus bewusst: «Vielleicht kriege ich eine Sperre, aber das muss mal gesagt werden.» In den Tagen danach versucht der Captain der Bayern sich noch zu retten. Er entschuldigt sich für sein Verhalten und will im nächsten Interview zwei Dinge klarstellen: Sauerei habe er nicht gesagt und geschrien habe er auch nicht.
Auch von Bestechungsvorwürfen will Matthäus plötzlich nichts mehr wissen, wie er dem «Rundfunk» erklärt: «Ich habe nur gesagt, der KSC solle dem Schiedsrichter eine Prämie überweisen, weil er zweideutige Entscheidungen getroffen hat – pro KSC und kontra Bayern. Ich habe nie gesagt, dass der KSC den Schiedsrichter bestochen hat.» Es nützt alles nichts mehr. Ein Verfahren wird eingeleitet und Matthäus für ein Spiel gesperrt sowie zu einer Busse von 25'000 Mark verdonnert.