«Stellen Sie den Ton des Fernsehers lauter, kommen Sie nahe an den Monitor heran und geniessen Sie!», so kündigt Jörg Dahlmann bei seinem Spielbericht für Sat.1 eines der schönsten Tore der Bundesliga aller Zeiten an. Dass der Kommentator selbst gerade Zeuge eines aussergewöhnlichen Tores geworden ist, lässt ihn gar seinen Job aufs Spiel setzen: «Liebe Zuschauer! Die Zeit für meinen Bericht ist zwar abgelaufen, aber egal. Sollen sie mich rausschmeissen. Ich zeig' Ihnen die Szene bis zum Umfallen!»
Dahlmann darf seinen Job behalten. Denn es sind elf Sekunden und fünf Haken, welche so gar nicht in diese Zeit der Bundesliga passen wollen. In den 90-ern prägen hartes Einsteigen und Vokuhila-Frisuren die Liga und dann kommt diese 87. Spielminute der 5. Runde zwischen Frankfurt und Karlsruhe. 22 Minuten zuvor ersetzte der 20-jährige Jay-Jay Okocha den glanzlosen Jan Furtok. In der 77. Minute bereitete er das 2:1 durch Uwe Bein vor, zehn Minuten später hätte Bein zum 3:1 einschieben können, doch der Deutsche legt den Ball zurück auf Okocha und ermöglicht diesem ein Solo für die Ewigkeit.
Der Nigerianer spielt mit dem jungen Oliver Kahn Katz und Maus, dribbelt vor das Tor, und schliesst den «Wahnsinnstanz» («Kicker») gegen die Verteidiger Slaven Bilic, Burkhard Reich und Lars Schmidt mit dem 3:1 ab. «Jay-Jay tanzt Oko-cha-cha», titelt die «Bild» am Tag danach. «Beckenbauer, Baresi, Kohler ... alle Liberi und Manndecker der Welt hätten hier stehen können und sie wären allesamt von ihm ausgetanzt worden», schreit Dahlmann. Und er dürfte damit recht haben.
Was Okocha nicht weiss: Seine unmittelbare fussballerische Zukunft hängt an diesem Treffer. «Nach dem Spiel kam Trainer Toppmöller auf mich zu und sagte, dass ich unter ihm nie wieder gespielt hätte, wenn der Ball nicht reingegangen wäre», erzählt der Traumtorschütze später. «Und ich hätte Toppmöller in dieser Entscheidung gestärkt», fügt Eintrachts Vize-Präsident Bernd Hölzenbein hinzu.
Denn Trainer Klaus Toppmöller stand nach eigenen Angaben am Rande eines Herzinfarkts: «Schiess endlich, schiess, habe ich acht-, neunmal gebrüllt», gibt der Übungsleiter zu Protokoll und für Hölzenbein rannte Okocha «mindestens eine Minute lang» vor Kahn hin und her. Es waren elf Sekunden. Auch dies eine Ewigkeit im Fussball.
Der Fussballer selbst, der auf dem Platz irgendwie nie erwachsen wurde und immer verspielt blieb, hat eine einfache Erklärung für das Solo bereit: «Ich hatte gar nicht vor, den Ball so lange zu halten. Ich habe das Loch gesucht.» Die ARD-Zuschauer wählen den Treffer im Frankfurter Waldstadion zum Tor des Jahres 1993. Okocha kommentiert: «Ich möchte auch mal normale Tore schiessen, ein Schuss aus 30 Metern.» Dabei gehören gerade Weitschüsse und Freistösse zu den weiteren Spezialitäten des Spielmachers.
Und Oliver Kahn? Der Keeper, der für seinen Ehrgeiz berühmt ist und jedes Tor als persönliche Beleidigung empfindet, bleibt in einem Interview mit «11Freunde» 20 Jahre später total entspannt: «Jay-Jays Tor war genial. Ausserdem ist mir durch diese Szene erstmal aufgefallen, wie beweglich ich war. Hoch, runter, wieder hoch, wieder runter! Ich war verdammt schnell … das habe ich jedenfalls aus diesem Tor rausgezogen.»
Auch seine Vorderleute mag er für das «schönste Gegentor der Karriere» nicht kritisieren: «Nein, wem hätte ich da einen Vorwurf machen können? Ich war nach dieser Situation völlig ruhig – warum auch immer. Die haben das Schauspiel aus der Distanz ganz wunderbar beobachtet und mir viel Glück gewünscht. (lacht) Aber dieses Tor ist mir mit einem Schmunzeln in Erinnerung geblieben und auf gar keinen Fall negativ besetzt.»
Dass Okocha überhaupt bei Frankfurt landet, ist der Legende nach einem grossen Zufall geschuldet. Mit 17 Jahren schenken die Eltern Augustine Azuka, der damals schon von allen nur Jay-Jay gerufen wird, zum Abitur eine Reise nach Deutschland. Er darf dort seinen älteren Bruder Emmanuel besuchen, der Profifussballer ist. Ein Freund nimmt ihn dann zum Training von Borussia Neunkirchen in der damaligen dritthöchsten Liga mit. Okocha überzeugt und der Verein setzt alles daran, dass er bleibt.
Eines Tages soll Dragoslav Stepanovic den jungen Supertechniker – den er später einmal als «originellsten Spieler seit Pelé» beschreiben wird – gesehen und ihn gefragt haben, was er denn sonst so mache, wenn er nicht Fussball spiele. «Schlafen», ist Okochas Antwort und «Stepi», damals Frankfurts Trainer sagt: «Dann kannst du auch zu uns zum Training kommen.» Die Ablösesumme beträgt 25'000 Mark.
Die Karriere bei Frankfurt verläuft für Okocha später weniger erfolgreich. Zu viel brotlose Kunst, zu viel Zirkus wird ihm immer wieder vorgeworfen. Nach dem Abstieg 1996 wechselt er zu Fenerbahçe Istanbul. Trotzdem wird der Mittelfeldspieler später von den Frankfurt-Fans zu einem der besten elf Spielern des Vereins aller Zeiten gewählt und ziert seit Januar 2013 eine der «zwölf Säulen der Eintracht» in der U-Bahn-Station Willy-Brandt-Platz. Fussballfans entscheiden halt nicht immer mit dem Kopf, sondern meist mit dem Herzen. Und in diese dribbelte sich der Nigerianer im Sturm.
In der Türkei erhält Okocha die türkische Staatsbürgerschaft und nennt sich Muhammet Yavuz, nach zwei Jahren wechselt er zu PSG. Dort nimmt er sich während seinen letzten beiden Jahren dem jungen Ronaldinho als Mentor an. In Paris wird noch immer gemunkelt, dass der Brasilianer seine besten Tricks von Okocha gelernt habe.
Poco se habla de los que fue está dupla en PSG, Okocha y Ronaldinho, demasiado fútbol! pic.twitter.com/gKhZCLHS8k
— Christian David M. (@CH_JRR10) June 9, 2020
Dieser zieht 2002 zu Bolton nach England weiter. Die Fans prägen den Ausdruck «Jay-Jay ... so gut, dass sie ihm zwei Namen gaben». In einer Sendung stellt Okocha dabei seine besten Tricks nach und soll seinen verrücktesten zeigen: «Der ist zu riskant für ein Spiel. Den kann ich nur im Training oder beim Stand von 4:0 oder 5:0 zeigen. Sonst dreht mein Trainer durch.»
Die Trainer hätten ihm auch so immer wieder gesagt, er mache zu riskante Sachen, aber Okocha erklärt: «Mit der Zeit lernen sie mich kennen und sie realisieren, dass ich nur das mache, was ich kann. Die Tricks können zwar misslingen, aber meistens nehme ich kein allzugrosses Risiko.»
Und angesprochen auf einen «Rabona», den er in der eigenen Platzhälfte gegen Birmingham zum Spielaufbau benutzte, sagt der Zauberfussballer: «Ach, solche Aktionen sind nur, um anzugeben.» Schön, sind die wichtigsten elf Sekunden Okochas für alle Fussballfans aufgegangen. Wir hätten sonst viele seiner Tricks wohl gar nie gesehen.