Der allererste Champions-League-Auftritt des FC Zürich misslingt gründlich: Zuhause im Letzigrund verliert das Team von Bernard Challandes gegen Cristiano Ronaldos Real Madrid zum Auftakt der Gruppenphase mit 2:5. Vor dem Gastspiel im Mailänder San Siro sind die Erwartungen an den Schweizer Meister auf ein Minimum gesunken.
Doch vor 32'439 Zuschauern im spärlich besetzten Giuseppe-Meazza-Stadion folgt bereits nach zehn Minuten der erste Paukenschlag. Der finnische Abwehrchef Hannu Tihinen, nicht gerade als filigraner Techniker bekannt, steht nach einem Eckball von Milan Gajic goldrichtig und überwindet wunderschön mit der Hacke Milan-Keeper Marco Storari.
Ausgerechnet Tihinen! Der Teamsenior stand in den Tagen zuvor als Sinnbild für die langsame und schwerfällige Defensive der Zürcher. Und jetzt packt er dieses feine Trickli aus.
Es bleibt der einzige Treffer: Der FCZ schafft die grosse Sensation. «Das ist ein mega Gefühl, eine super Erleichterung nach diesen 90 Minuten Kampf. Das war ein super Erlebnis, eigentlich unbeschreiblich», beschreibt Verteidiger Heinz Barmettler im Bauch des Stadions seine Gefühlslage, während die Milan-Stars wortlos an der Presse vorbeiziehen.
Die «Gazzetta dello Sport» lobt das Husarenstück und glaubt, dass selbst der grosse Hacken- und Kung-Fu-Trick-Spezialist Zlatan Ibrahimovic auf dieses Meisterwerk neidisch wäre.
Torschütze Tihinen selbst lacht nach der Partie: «Ja, mein Treffer gegen Milan war ein schönes Tor, ich habe den Trick aus einem finnischen Volkstanz geklaut.» Eigenlob war nie die grosse Stärke des bekennenden Fans des Schweizer ÖVs, der 33-jährige Abwehrchef nimmt sich zurück und erklärt: «Das war nicht so schlecht. Für den FCZ ist dieser Sieg eine grosse Sache.» Immerhin gesteht der kühle Finne, dass er «noch nie ein solches Tor gemacht habe».
Einen Seitenhieb Richtung Medien, welche ihn in den Tagen zuvor kritisiert hatten, landet er ebenfalls noch: «Kein schlechtes Tor für einen Senior mit schlechter Technik, oder?» Der «Blick» schreibt darauf mit einem Augenzwinkern, dass sich der Direktor des Zürcher Ballets um ein Engagement des Ballartisten aus dem hohen Norden bemühe.
TV-Moderator Tiziano Crudeli, seit Geburt fanatischer Anhänger der «Rossoneri», befindet sich natürlich am anderen Ende der Gefühlsskala und schlägt beim Tor des Aussenseiters nur ungläubig die Hände über den Kopf.
«Nein, nein, nein, nein, ein solcher Fehler, nein. Ihr dürft solch einen Fehler nicht machen», schreit der italienische Kultmoderator mit gefühlten 130 Dezibel im Fernsehstudio herum.
Neutralität gibt's bei Crudeli im Gegensatz zu seinen «normalen» Berufskollegen nicht. 1987 kommentiert der Tifoso seinen ersten Milan-Match, damals noch im Radio.
Früher war der aus der Provinz Emilia-Romagna stammende Sport-Journalist im Tennis heimisch, dann wechselte er zum Fussball. Doch Crudeli gibt sich so leicht nicht geschlagen und peitscht seine Jungs an: «Forza Ragazzi! Aufwachen!»
Doch die grosse AC Milan, welche zwei Jahre zuvor noch Siegerin der Königsklasse geworden ist, wirkt trotz des Gegentreffers noch immer nicht wirklich wach. Crudeli muss eingestehen: «Es ist Zürich, welches das Spiel macht. Zürich ist besser als Milan», erzürnt sich Crudeli. «Aufwachen!»
Das sieht auch Milan-Trainer Leonardo so, der erst vor wenigen Monaten den langjährigen Erfolgscoach Carlo Ancelotti ersetzt hat. Darum bringt er nach der Pause Ronaldinho für den unauffälligen Clarence Seedorf. Dabei stehen beim Heimteam schon berühmte Namen wie Alessandro Nesta, Andrea Pirlo, Alexandre Pato oder Filippo Inzaghi auf dem Platz.
In der zweiten Hälfte erhöht Milan den Rhythmus, kommt zu einigen guten Chancen. Vor allem Stürmer Inzaghi scheitert immer wieder am glänzenden FCZ-Goalie Johnny Leoni. Doch die Zürcher wehren sich tapfer, die Angriffe der Mailänder nehmen wieder ab.
In der Nachspielzeit kommt beim Favoriten auch noch Pech dazu. Crudeli ist noch im Schimpfmodus, als Verteidiger Gianluca Zambrotta seinen Schuss am Pfosten abklatschen sieht. «Pfosten, Pfosten, nein, Pfosten von Zambrotta», jault der enttäuschte Moderator verzweifelt in die Runde.
Danach dürfen sich FCZ-Trainer Bernard Challandes und sein Team feiern lassen. Zürich ist für einmal DIE Sportstadt der Schweiz. Nur 24 Stunden zuvor haben nämlich die ZSC Lions mit den Chicago Blackhawks ein NHL-Team im Kampf um den Victoria Cup bezwungen.
Doch auch die grösste Stadt der Schweiz kann es in Sachen Leidenschaft nicht mit Crudeli aufnehmen. So liefert sich der Milan-Fan hie und da auch handgreifliche Diskussionen mit Erzrivale Elio Corno, der dummerweise Inter-Fan ist.
An diesem Abend siegt jedoch die kühle Mentalität des sympathischen Skandinaviers Tihinen über diejenige der temperamentvollen Südländer. Das Siegestor von Tihinen gegen Milan wird später sogar von FCZ-Präsident Ancillo Canepa in Öl gemalt und dem Finnen als Erinnerung an seinen grossen Abend überreicht