Sport
Unvergessen

18.02.2006: Als die «Eisgenossen» kanadischer spielten als die Kanadier

Swiss head coach, Canadian-German Ralph Krueger, right, congratulates his forward Paul di Pietro, left, who just scored his first of two goals, next to assistant coach Canadian Peter John Lee, center, ...
Coach Ralph Krueger gratuliert seinem Doppeltorschützen Paul DiPietro.Bild: KEYSTONE
Unvergessen

Die Hockey-Nati spielt kanadischer als die Kanadier und rächt sich für eine uralte Schmach

18. Februar 2006: Die kleinen Schweizer siegen sensationell gegen die Hockeymacht Kanada durch zwei Treffer des eingebürgerten Kanadiers Paul DiPietro 2:0. Endlich ist die Schmach vom 0:33 82 Jahre zuvor getilgt.
18.02.2022, 00:0114.02.2022, 15:30
Folge mir
Mehr «Sport»

Es gibt diese Augenblicke, da glaubt man im falschen Film zu sein. So einer ist der Abend des 18. Februar 2006 in Turin. Die Schweiz besiegt Kanadas NHL-Profis 2:0. Da sitzt vorne an einer offiziellen Medienkonferenz im Rahmen eines olympischen Turniers Pat Quinn, Kanadas Cheftrainer. Kanadas Hockey-General. Die Verkörperung der kanadischen Hockey-Weltmacht und der kanadischen Arroganz. Und er sagt mit ruhiger Stimme etwas Ungeheuerliches:

«Die Schweizer haben kanadischer gespielt als wir.»

Mit «wir» meint er die besten, schnellsten, härtesten, smartesten, bestverdienenden kanadischen Spieler, die es gibt. Die NHL-Stars. Es ist das grösste Kompliment, das dem Schweizer Eishockey bis dahin seit der Verbandsgründung im Jahre 1908 gemacht worden ist. Das ist so, wie wenn Franz Beckenbauer sagen würde, wir hätten deutscher gespielt als die Deutschen 1954 im WM-Final in Bern. Oder Pelé die Schweizer Fussballer als brasilianischer als die Brasilianer von 1958 bezeichnen würde.

Der zweite Streich gelingt Paul DiPietro im Powerplay.Video: YouTube/Disengage

Nach 98 Jahren der erste Sieg gegen Kanada

98 Jahre mussten die Schweizer warten, bis sie endlich zum ersten Mal kanadischer waren als die Kanadier. 98 Jahre waren ohne Sieg gegen Kanada im Rahmen eines WM- oder Olympia-Turniers vergangen. 98 Jahre mussten wir alle Erfolge, alle WM-Medaillen letztlich doch relativieren und sagen: Aber gegen eine Mannschaft mit den besten kanadischen NHL-Profis hätten wir natürlich keine Chance.

Doch dann sagt uns Pat Quinn, wir hätten kanadischer gespielt als die kanadischen NHL-Profis. Wir haben den Kanadiern die schmählichste, überraschendste Niederlage zugefügt, seit sie im September 1972 das erste Spiel der Super-Serie in Montreal gegen die Sowjets mit 3:7 verloren hatten. Die Kanadier haben dann, wenn sie die besten NHL-Profis aufbieten konnten (das ist an der WM nicht der Fall), im Rahmen der Olympiaturniere (seit 1998) und beim Kanada- oder World Cup nie gegen einen «Underdog» verloren.

Swiss Goran Bezina, Martin Pluess, Paul di Pietro and Ivo Ruethemann, from left, celebrate di Pietros second goal, during their men's preliminary round group A ice hockey match Canada against Swi ...
DiPietro (Zweiter von rechts) und Co. im Freudentaumel.Bild: KEYSTONE

Der Ursprung für die Medaille von Stockholm

Und mehr noch: Wir haben im Rahmen von Olympia-Turnieren gegen Kanada noch nie gewonnen – aber am 30. Januar 1924 in Chamonix mit 0:33 die höchste Niederlage aller Zeiten erlitten. Es war dies die höchste Niederlage, die grösste Schmach, die je ein Team an einem olympischen Turnier hinnehmen musste.

Nun, 82 Jahre später, am 18. Februar 2006, ist die Schmach von 1924 getilgt. Das Wunder ist vollbracht. Seit dem 18. Februar 2006 wissen wir nun, dass eine Hockey-Medaille bei einem WM- oder Olympia-Turnier möglich ist (und diese wird tatsächlich bei der Silber-WM 2013 in Stockholm auch gewonnen).

DiPietros Pfahl in die kanadischen Herzen

Bei den kanadischen Medien macht sich nach dieser historischen Niederlage Fassungslosigkeit breit. Nur die «Montreal Gazette» findet ein knackiges Wortspiel: «Canada swissmissed» – was so viel heissen will wie, dass man von Weicheiern vorgeführt worden sei. Die wohl bitterste Kritik für ein kanadisches Nationalteam. «La Presse» titelt hingegen trocken: «Contre un mur» – «Gegen eine Wand gefahren». Gemeint ist damit Torhüter Martin Gerber.

Der «Toronto Star» ortet den Grund für die Niederlage bei Paul DiPietro, der beide Tore erzielt: «The forward who puts the daggers through the heart of Team Canada». Im übertragenen Sinne: «Der Stürmer, der Kanada einen Pfahl ins Herz stiess» – in Anlehnung an Dracula. Eine Analyse mit Hintergedanken: DiPietro ist ja ein in der Schweiz eingebürgerter Kanadier.

Die TSI-Reporter drehen während der Schlussminute fast durch.Video: YouTube/Daniele Nv

Weil sie eine Mannschaft sind

Siegen wir an diesem 18. Februar, weil uns die Kanadier unterschätzen? Nein. Kanadas Cheftrainer Pat Quinn: «Wir wussten nach dem Sieg der Schweizer gegen Tschechien ganz genau, was auf uns zukommen wird. Wir waren einfach nicht dazu in der Lage, auf das Spiel der Schweizer richtig zu reagieren.»

Siegen wir, weil wir ganz einfach Glück haben? Nein. Die Kanadier beklagen keinen Pfostenschuss. Siegen wir, weil wir die besseren Einzelspieler haben? Nein. Martin Gerber ist zwar einer der besten Goalies der Welt, aber die kanadischen Feldspieler sind alle talentierter, kompletter, kräftiger als ihre Schweizer Gegenspieler. Warum siegen wir? Weil die Schweizer eine Mannschaft sind.

Teambildung als Grundphilosophie

Jedes Wort, das Nationaltrainer Ralph Krueger seit seinem Amtsantritt im Herbst 1997 über Teambildung gesagt hat, wird auf dem Eis umgesetzt. Es ist die Sternstunde von Kruegers extremer, in dieser Form im Sport noch nie so konsequent umgesetzter, ja bisweilen an Sektenbildung mahnender Philosophie.

Wir sind leidenschaftlicher, mutiger, hartnäckiger, smarter, disziplinierter. Jeder einzelne Schweizer hat ein grösseres Herz als sein Gegenspieler. Wir sind ganz einfach besser als die bestbesetzte und teuerste Mannschaft der Welt. Ist es nicht nur ein Sieg, sondern ein Hockeymärchen? Ja. Es ist ein Spiel, das in Hollywood als Drehbuch für zu kitschig befunden werden würde.

Das Schweizer Kader
Torhüter: Martin Gerber, David Aebischer (Ersatz), Marco Bührer (dritter Torhüter).
Verteidiger: Mark Streit, Olivier Keller, Mathias Seger, Beat Forster, Severin Blindenbacher, Julien Vauclair, Steve Hirschi, Goran Bezina.
Stürmer: Marcel Jenni, Flavien Conne, Patric Della Rossa, Paul DiPietro, Martin Plüss, Patrick Fischer, Romano Lemm, Thierry Paterlini, Thomas Ziegler, Ivo Rüthemann, Adrian Wichser, Sandy Jeannin.

Bemerkung: Martin Gerber, Mathias Seger, Severin Blindenbacher, Julien Vauclair und Martin Plüss sind 2013 bei der Silber-WM auch noch dabei.

Zwei Helden für ein Wunder

Die Schweizer haben zwei Helden. Erstens: Paul DiPietro. Am 8. September 2005 ist er 35 geworden, 1993 mit Montreal Stanley-Cup-Sieger. Am 3. Januar 2002 heiratet er eine Schweizerin und er, der Hardcore-Kanadier, spielt mit der Schweiz gegen Kanada. Er erzielt beide Tore im Powerplay. Der Internationale Eishockeyverband IIHF wird die Partie später in seiner offiziellen Geschichtsschreibung der 100 besten Hockey-Storys aller Zeiten als Nummer 87 führen.

Zweitens: Martin Gerber. In der 36. Minute zeigt er die grösste Parade eines Schweizer Goalies in den letzten 50 Jahren: Er fischt mit der Fanghand einen Direktschuss von Rick Nash aus der Luft. Zwölf Minuten lang studiert der Video-Goalrichter alle möglichen TV-Bilder, um herauszufinden, ob der Puck in «Tinus» Fanghand hinter der Linie ist. Es bleibt dabei: Kein Tor. Denn ein Tor gibt es nur dann, wenn der Puck hinter der Linie sichtbar ist.

Switzerland's Martin Gerber (R) stop Canada's Ryan Smith (C) in front of the net during the Men's Preliminary Round game between Canada and Switzerland at the Turin 2006 Winter Olympic  ...
Martin Gerber hält seinen Kasten rein.Bild: EPA

Es ist, als hätten doch für einen kurzen Augenblick die Hockeygötter ihre schützende Hand vor die TV-Kameras gehalten. Das Torschussverhältnis von 18:49 mag auch zeigen, welche Heldentaten Gerber vollbracht hat. Die Kanadier werden noch 2013 mit den Funktionären hadern und behaupten, dieser Puck sei drin gewesen.

Endstation Schweden

Das Olympia-Abenteuer 2006 endet für die Schweiz mit einer 2:6-Niederlage im Viertelfinal gegen Schweden. Die Schweden, gecoacht von Bengt-Ake Gustafsson, geben später zu, im letzten Gruppenspiel gegen die Slowakei absichtlich verloren zu haben (0:3), um im Viertelfinal die Schweiz als Gegner zu bekommen. Die Rechnung geht auf. Die Schweden werden Olympiasieger. Die Kanadier scheiden im Viertelfinal als Titelverteidiger durch ein 0:2 gegen Russland aus.

Unvergessen
In der Serie «Unvergessen» blicken wir jeweils am Jahrestag auf ein grosses Ereignis der Sportgeschichte zurück: Ob eine hervorragende sportliche Leistung, ein bewegendes Drama oder eine witzige Anekdote – alles ist dabei.
Um nichts zu verpassen, like uns auch auf Facebook!
DANKE FÜR DIE ♥
Würdest du gerne watson und unseren Journalismus unterstützen? Mehr erfahren
(Du wirst umgeleitet, um die Zahlung abzuschliessen.)
5 CHF
15 CHF
25 CHF
Anderer
twint icon
Oder unterstütze uns per Banküberweisung.
Diese NHL-Spieler haben die 600-Tore-Marke geknackt
1 / 22
Diese NHL-Spieler haben die 600-Tore-Marke geknackt
Wayne Gretzky, 894 Tore
quelle: x02835 / perry nelson
Auf Facebook teilenAuf X teilen
Schweizer Snowboarder Pat Burgener erobert das olympische Dorf auf TikTok
Video: watson
Das könnte dich auch noch interessieren:
4 Kommentare
Weil wir die Kommentar-Debatten weiterhin persönlich moderieren möchten, sehen wir uns gezwungen, die Kommentarfunktion 24 Stunden nach Publikation einer Story zu schliessen. Vielen Dank für dein Verständnis!
Die beliebtesten Kommentare
avatar
Hallo22
18.02.2017 11:52registriert Oktober 2016
Paul di Pietro ist eine Legende....!
300
Melden
Zum Kommentar
avatar
niklausb
18.02.2017 11:48registriert März 2015
Aber das Wortspiel swissmissed soll nicht heissen das die Schweizer Missen sind sondern das Kanda abgewiesen bzw. Abgetreten wurde https://m.dict.cc/deen/?s=dismissed
Also nix von wegen weicheiern.
210
Melden
Zum Kommentar
4
United dreht verrücktes Cup-Spiel gegen Liverpool +++ Juventus kann nicht mehr gewinnen

Beinahe hätte Chelsea ein Spiel, dass sie lange Zeit im Griff gehabt hatten, noch aus der Hand gegeben. Nach einer 2:0-Führung zur Pause leiteten die «Blues» die Aufholjagd der unterklassigen Gäste aus Leicester mit einem Eigentor selbst ein. In der 62. Minuten trafen die «Foxes» dann tatsächlich zum Ausgleich.

Zur Story